Die Verkündung der Geburt Jesus
Das Lieblingsstück im Juli kommt von Werner Breig – „Sei gegrüßet, Maria“ von Heinrich Schütz.
Zu den von Werner Breig am meisten bewunderten Stücken von Schütz gehört das geistliche Konzert „Sei gegrüßet, Maria“. Schütz hat die Scuola Grande di San Rocco in Venedig sicherlich unzählige Male betreten. Wer dort eintrat, sah als erstes das Verkündigungsbild von Jacopo Tintoretto. Ob dieses Bild auf Schütz einen nachhaltigen Eindruck gemacht und seine Kompostion beeinflusst hat?
Zu den von mir am meisten bewunderten Stücken von Schütz gehört seine Vertonung eines Textes, der die Schwelle der christlichen Heilsgeschichte markiert: die Verkündigung der Geburt Jesu Heilandes an die zur Mutter auserwählte Maria. Die Szene ist unzählige Male in der bildenden Kunst dargestellt worden, wobei der Erzengel und die Jungfrau als gleichbedeutend und auf gleicher Augenhöhe dargestellt werden.
Als die Komponisten begannen, diesen Text in der Form des Dialogs zu komponieren, d.h. die beiden Protagonisten selbst (und meist ausschließlich) sprechen zu lassen, stellte sich als Problem heraus, dass der Anteil des Erzengels ein Vielfaches dessen Marias ausmacht, dass also das Gleichgewicht der bildlichen Darstellungen – das ja auch eine Gleichrangigkeit ausdrückt – kaum erreicht werden kann. Schütz sah hierin offenbar ein Problem, das gelöst werden musste, wenn er dem Text gerecht werden wolle. Dafür ersann er einen höchst originellen Kunstgriff. In seiner Vertonung reagiert Maria auf Gabriels erste Worte schon bevor dessen erster Gruß vollständig ausgesprochen ist, und sie bleibt auf dem Plan, bis der Name des erwarteten Sohnes genannt wird.
Dass er Maria überhaupt so früh in den Dialog einbeziehen konnte, verdankt Schütz der nicht ganz genauer Übersetzung Luthers. Denn genaugenommen müsste es heißen (ich zitiere die Zürcher Bibel in der Fassung von 1931): „Sie erschrak über das Wort und sann darüber nach, was das für ein Gruß sei.“ Auch Luther spricht von Marias Gedanken, aber er gibt ihnen – wohl aus seiner Neigung zu einfachen Formulierungen heraus – die Form einer direkten Rede: „Welch ein Gruß ist das?“ In dieser Form war der Gedanke komponierbar – und dies in einer höchst seltsamen, um nicht zu sagen befremdlichen musikalischen Fassung. Es ist ein fünftöniges Ostinato, auf das wir fünfmal Maria „laut denken“ hören. Eigentlich hören wir keine wirkliche Gesangsmelodie, sondern ein Konstrukt: fünf verschiedene Töne, vier verschiedene Intervalle, fünf Töne innerhalb eines Hexachord-Raumes. Dass es sich nicht eigentlich um eine Gesangsmelodie handelt, sondern um eine Tonreihe mit unterlegtem Text, wird dadurch klar, dass der dritte Ton zum vierten als Abstieg einer großen Sexte führt. Dies ist eine Fortschreitung, die in der Klassischen Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts als unsanglich ausgeschlossen ist – eine Regel, der sich Schütz fast durchweg anschloss. Zur Charakteristik der Fünfton-Formel gehört, dass die rhythmisch-metrische Fortschreitung in zweizeitigen Notenwerten stattfindet und sich damit quasi „nonkonformistisch“ zum herrschenden dreizeitigen Metrum der Engelsbotschaften verhält. Man möchte fast sagen, Schütz hat hier ein „Motiv der Maria“ komponiert, dem das Stück verdankt, dass sein erster Teil als der Schwerpunkt der Komposition wirkt und nicht als eine bloße Einleitung zu Marias schließlicher Einwilligung dazu, den ihr zugedachten Platz in der Heilsgeschichte einzunehmen: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“
Ein Gedanke zum Schluss: Giovanni Gabrieli war nicht nur Organist von San Marco, sondern auch für die Musik der Scuola Grande di San Rocco zuständig. Schütz hat dieses Gebäude sicherlich unzählige Male betreten, Wer dort eintrat, sah als erstes das Verkündigungsbild von Jacopo Tintoretto. Ob dieses Bild auf Schütz einen nachhaltigen Eindruck gemacht und seine Behandlung des Themas als Komponist beeinflusst hat? Wir wissen es nicht.
Prof. Dr. Werner Breig war Professor für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik Karlsruhe, anschließend bis 1988 an der Bergischen Universität Wuppertal und danach bis 1997 an der Ruhr-Universität Bochum. Schwerpunkte seiner Forschungen sind die Musik von Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach und Richard Wagner.
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