Mit Schütz durch das Jahr (III)
Frühling, Liebe und die Sehnsucht nach Frieden
Am 6.11.1672 (nach dem julianischen Kalender, bzw. dem 16.11. in unserem heutigen, gregorianischen Kalender) verstarb in Dresden hochbetagt der kurfürstliche Kapellmeister Heinrich Schütz. Der 350. Todestag im Jahr 2022 gibt uns Gelegenheit, an einen der wichtigsten und wegweisendsten Komponisten unserer Musikgeschichte zu erinnern. Sein breites Œuvre erlaubt uns in fast jeder Konstellation von Vokalmusik (fast ausschließlich solche ist von Schütz erhalten), während des ganzen Jahres mit passender Musik Heinrich Schütz zu gedenken, mit ihm durch das Jahr zu gehen. Im dritten Beitrag der Folge „Mit Schütz durch das Jahr“ geht es um Musik zu den Themen Frühling, Liebe und Friedenssehnsucht.
Für mich ist Schütz der Komponist des Bibeltextes: Ich bin mit Schütz fast groß geworden; als Jugendlicher im Chor, dann als Instrumentalist. Viele Bibelstellen klingen, wenn ich sie höre oder lese, in meinem Kopf sofort in der Vertonung durch Heinrich Schütz. Er hat den Text in einer Art und Weise vertont, die Text und Musik fest miteinander verschmelzen lässt.
Doch Schütz hat auch andere Texte vertont; man denke nur an die sagenumwobene, leider verschollene Daphne. Und natürlich ist da Schütz‘ Opus I: Il primo libro de Madrigali die Henrico Sagittario, Venezia 1611, SWV 1–19, sein Gesellenstück. Vertonung italienischer Schäferlyrik von den seinerzeit beliebtesten Dichtern: überwiegend Battista Guarani (1538–1612) und Giambattista Marino (1569–1625). Es geht natürlich um die Liebe, wenn auch meist um die verschmähte, es geht um den Frühling (O primavera, gioventù de l’anno, O Frühling, Jugend des Jahres), die Natur (Selve beate, Glückliche Wälder) und immer wieder um die Liebes-Schmerzen. Tolle Musik, die sich mit den italienischen Zeitgenossen durchaus messen kann! Sicher keine Musik für große Chöre, aber doch auch chorisch aufführbar.
Nicht immer verläuft die Grenze zwischen weltlich und geistlich so klar bei den italienischen Madrigalen. Das Thema Liebe gibt es nämlich durchaus auch in der Bibel. Besonders beliebt waren zu Zeiten von Heinrich Schütz die Texte des Hohelieds, die ihren Ursprung ja in der weltlichen Liebeslyrik haben und oft auch entsprechend vertont werden: Nicht zufällig wählte Aquilio Coppini (gest. 1629) Texte aus dem Hohelied für seine 1607 und 1609 erschienen geistlichen Fassungen von Monteverdis Madrigalen (Auswahl in Carus 4.024); man denke auch an Monteverdis Hoheliedvertonungen Nigra sum oder Pulchra es aus der Marienvesper!). Und auch im Hohenlied geht es viel um den Liebesschmerz und die Sehnsucht. Besonders tief empfunden hat Schütz die Sehnsucht der Liebenden in den Hoheliedvertonungen aus dem wiederum in Venedig erschienen 1. Teil der Symphoniae sacrae in Musik gesetzt: Anima mea liquefacta est SWV 263/264 und In lectulo per noctes SWV 272/273. „Findet ihr meinen Freund, so sagt ihm, dass ich vor Liebe krank liege“ endet der zweite, dissonantenreiche Teil von Anima mea liquefacta est (mehr dazu im Lieblingsstück).
Die Liebe steht auch im Mittelpunkt von Schütz‘ Hochzeitsmusiken. Für eine nicht näher bekannte Hochzeitsfeier entstand das großartige Konzert Freue dich des Weibes deiner Jugend SWV 453 über einen Text aus den Sprüchen Salomonis. Der jubelnde Eingangsvers erklingt dabei mehrfach als Tutti-Ritornell, während die Fortsetzung im aufgelockerten, eher solistischen Satz vertont ist und jeweils die Gründe für die Freude vorträgt: „Sie ist lieblich wie eine Hinde (Hirschkuh) und holdselig wie eine Rehe“ (ein Reh). Gut, heute würde man andere Bilder wählen, aber bei der fesselnden, madrigalischen Chromatik und den harmonischen Rückungen verzeiht man den Text gern! Nach dem nächsten Tutti wird es imitatorischen „Lass dich ihre Liebe allzeit sättigen“, dann aber „und ergetzet (ergötzet) dich allewege mit ihrer Liebe“ mit fröhlichen Sechzehntel-Girlanden. Es folgt das letzte Ritornell und mündet dann in einen A-Dur-Schlussakkord. Man könnte denken, das Stück ist vorbei, doch nein, wie schon am Ende des 1. Ritornells tauschen über dem Schlussakkord die beiden Zinken noch einmal ihre Position: Der zweite geht von a2 über g2 und f2 nach e2, der erste hingegen von e2 über fis2 und gis2 nach a2, d.h. in den liegenden A-Dur-Akkord hinein spielen sie erst fis/g, dann gis/f; da drückt man doch die Wiederholungstaste am CD-Spieler: Habe ich richtig gehört? Ja, verrückt! So eine Bekräftigung im Schlussakkord!
Frieden spielt zu allen Zeiten eine wichtige Rolle; das merken wir in Europa gerade wieder viel mehr als uns allen lieb ist! Das war zu Schütz-Zeit nicht anders, von 1618–1648 wütete der dreißigjährige Krieg in Europa und auch Sachsen war immer wieder Kriegsschauplatz. Und damals trafen sich wie heute während des Krieges die Parteien um die Möglichkeit eines Friedens auszuloten. Anders als heute gehörten aber damals Gottesdienste mit Musik fest dazu. Auch Heinrich Schütz hat mehrfach an solchen Treffen teilgenommen und Kompositionen dafür geschaffen. Trotz seiner großartigen Idee sehr in der Situation verfangen und daher selten zu hören ist das Da pacem Domine zum Mühlhäuser Kurfürstentag 1627 SWV 465. Das Stück ist doppelchörig. Der eine Chor trägt – von Gamben gestützt – das lateinische Da pacem Domine in diebus nostris vor, während der andere die Kurfürsten und auch den Kaiser mit Vivat-Rufen begrüßt: Die Fürsten werden gebührend empfangen, ihnen aber nachdrücklich der Friedensauftrag mit auf den Weg gegeben (die Carus-Ausgabe bietet für die Vivat-Rufe auch einen Alternativtext an).
Dr. Uwe Wolf ist als Musikwissenschaftler vor allem im 17. und 18. Jahrhundert zuhause. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von der Zeit Monteverdis und Schütz über Bach und die Generation der Bach-Söhne und -Schüler bis hin zur Wiener Klassik. Seit Oktober 2011 leitet er das Lektorat des Carus-Verlags.
Heinrich Schütz
Italienische Madrigale
- Schütz Gesamtausgabe, Bd. 1:
Carus 20.901 - Schütz Gesamtaufnahme, Vol. 2:
Carus 83.237
Symphniae Sacrae I
- Schütz Gesamtausgabe, Bd. 7:
Carus 20.907 - Schütz Gesamtaufnahme, Vol. 14:
Carus 83.273
Psalmen & Friedensmusiken
- Schütz Gesamtaufnahme, Vol. 20:
Carus 83.278
Nicht ganz gesichert ist der Entstehungszusammenhang bei der Vertonung des 85. Psalms Herr, der du bist vormals genädig gewest SWV 461. Vieles spricht dafür, dass der Psalm für ein ähnliches Fürstentreffen 1631 in Leipzig komponiert wurde. Der Psalmtext erinnert Gott an seine frühere Gnade, bittet um Trost in der aktuellen Situation und artikuliert die Fiedenssehnsucht: „Ach, dass ich hören sollte, dass Gott der Herre redete; dass er Friede zusagte seinem Volk“. Der Psalm endet zuversichtlich: „Doch seine Hilfe ist nahe denen, die ihn fürchten“; eine Aussage, die Heinrich Schütz mit einem hinzugefügten „ja, ja, ja, ja“ noch unterstreicht! Es ist eine für Schütz ungewöhnlich ausladende Psalmkomposition mit einer Aufführungsdauer von 12 Minuten, doch in ihrer klaren Gliederung und aufeinanderfolge unterschiedlichster musikalischer Ideen und Formen zu keiner Sekunde langweilig. Wie so oft ist die Besetzung dieser viel zu selten zu hörenden Musik variabel (Capellchor und Posaunen ad lib.). Den von Schütz hier gewählten Friedenspsalm gibt es aber auch kleinbesetzt im Becker-Psalter: SWV 182.
Herr, der du bist vormals genädig gewest
SWV 461
Carus 20.461
Nicht fehlen darf als Friedenmusik von Heinrich Schütz natürlich das Verleih uns Frieden genädiglich SWV 372 aus der Geistlichen Chor-Music von 1648 (lesen Sie mehr dazu im Lieblingsstück von Iris Pfeiffer); gerne auch mit dem 2. Teil Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit, wobei man „Fürsten“ ja durchaus auch in einem weiteren Sinne sehen kann. Mit der Besetzung dieser fünfstimmigen Motetten darf man gerne wieder spielen: nur Chor, Chor mit Instrumenten colla parte, oder vokal-instrumental gemischt? Der Anfang inspiriert geradezu, nur die beiden Sopranstimmen vokal (solistisch oder chorisch) zu besetzen und die Unterstimmen instrumental ausführen zu lassen. Spätestens ab T. 37 („der für uns könnte streiten“) sollte auch der Tenor vokal besetzt werden (oder alle Singstimmen treten in T. 37 hinzu?). Die Bandbreite der Aufführungsmöglichkeiten ist groß, der „verständige Musicus … dergleichen selbsten wohl vermercken/ und dahero mit dero Anstellung gebührlich zuverfahren wissen wird.“ (Schütz in der Vorrede zur Geistlichen Chor-Music).
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