Mit Händel fing alles an…
Englische Musikfeste und das Oratorium
Dichte Chorklänge, imposante Oratorien und eine enge Verbindung von Musik und Wohltätigkeit prägen die Tradition der englischen Musikfeste seit dem 18. Jahrhundert. Dr. Barbara Mohn beleuchtet die Entwicklung dieser einzigartigen Festkultur.
Georg Friedrich Händel ist der Schöpfer des englischen Oratoriums. Als er 1732 seine Esther als geistliches Drama ohne szenische Aktion erstmals auf die Bühne des Londoner King‘s Theatre brachte, begann eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Das Opernpublikum war von der neuen Gattung so begeistert, dass Händel, der nicht nur Komponist, sondern auch Theatermanager war, seine Opernhäuser fortan mit Oratorien über biblische Stoffe füllte. 1741 komponierte er den Messiah – diesmal nicht für eine Opernbühne, sondern für ein Benefizkonzert in Dublin. Das Werk sollte in Großbritannien eine besondere Rolle einnehmen: Es wurde zu einem Symbol für die Verbindung von Musik und Wohltätigkeit. Händel selbst führte das Oratorium alljährlich zugunsten eines Londoner Waisenhauses auf. Solche Aufführungen des Messiah und später auch anderer Oratorien zu karitativen Zwecken waren eine der zentralen Triebkräfte für die Entwicklung der großen Musikfeste, die seit dem frühen 18. Jahrhundert zunächst in Großbritannien und etwas später auch in Deutschland und anderen Ländern veranstaltet wurden.
Messiah – ein Symbol für erfolgreiche Charity
Seit 1698 versammelten sich einmal im Jahr die Kathedralchöre Londons in der St. Paul’s Cathedrale zum Festival of the Sons of the Clergy, dessen Erlös einem Hilfsfonds für die Witwen und Waisen von Klerikern zugutekam. Diese Idee wurde vielerorts aufgegriffen; unter anderem in den benachbarten Städten Gloucester, Worcester und Hereford, deren „Three Choirs Festival“ in veränderter Form bis heute besteht. Im späten 18. Jahrhundert begannen auch einige der rasch wachsenden Industriestädte in Nord- und Mittelengland, mehrtägige Musikfeste zu veranstalten. Hier ging die Initiative nicht von den Kirchen, sondern von einzelnen wohlhabenden, philanthropisch gesinnten Unternehmern aus. Aber auch hier wurde die Musikfestidee aus dem Wunsch heraus geboren, Gelder für eine karitative Einrichtung aufzubringen, meist für das städtische Krankenhaus. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Aufführung des Messiah eine Hauptattraktion der Musikfeste und spülte zuverlässig den größten Gewinn in die Kassen.
Beeindruckende Zahlen:
Messiah, London, 1883 – 4.000 Chorsänger*innen, rund 440 Instrumentalist*innen, 22.388 Zuhörer*innen
Innenansicht der Westminster Abbey
anlässlich der Händel-Gedenkfeier
ca. 1790
Befeuert wurde die Musikfesttradition auch durch den britischen Händel-Kult. Die seit 1784 veranstalteten Händel-Gedenkfeiern in der Westminster Abbey waren so legendär, dass Joseph Haydn sie 1791 besuchte und sich zur Komposition der Schöpfung (1797/98) inspirieren ließ. Später fanden die Händel-Feste im Londoner Crystal Palace statt. 1883 führten dort 4.000 Chorsänger*innen und rund 440 Instrumentalisten den Messiah auf. Das Publikum war aber auch nicht schlecht vertreten, man „zählte“ 22.388 Zuhörer*innen.
Die englischen Musikfeste entwickelten sich zu regelrechten Oratorien-Festspielen, bei denen stets mehrere oratorische Werke dargeboten wurden. Als Antonín Dvořáks Requiem 1891 auf dem Musikfest zu Birmingham uraufgeführt wurde, standen neben der Aufführung des Messiah, des Elias von Felix Mendelsohn Bartholdy und der Johann Sebastian Bach’schen Matthäuspassion noch zwei weitere Uraufführungen auf dem Programm: Alexander Mackenzies Kantate Veni creator spiritus und Charles Villiers Stanfords großes Oratorium Eden. Und all das musste ein und derselbe Chor innerhalb von vier Tagen bewältigen – eine Meisterleistung!
Das Musikfest in Birmingham gehörte im 19. Jahrhundert zu den national und international renommiertesten Musikfesten. Bei den Oratorienaufführungen traten hochkarätige Musiker*innen und Gastdirigenten wie z. B. Hans Richter und berühmte Opernsängerinnen wie Jeanne-Anaïs Castellan, Pauline Viardot, Jenny Lind, Thérèse Tietjens oder Emma Albani auf. Der leistungsstarke, großbesetzte Chor setzte sich bis in die 1850er Jahre ausschließlich aus Profis zusammen und wuchs von 1820 bis 1888 von 134 auf 371 Sänger*innen an.
Eine wahrlich beeindruckende Tradition von Ur- und englischen Erstaufführungen
Dem Publikum sollten – wie auch bei den anderen großen Musikfesten – Uraufführungen und englische Erstaufführungen geboten werden. Daher pflegten die Organisatoren enge Kontakte mit bekannten Komponisten im In- und Ausland und vergaben auch selbst Kompositionsaufträge. Den größten Coup landete Birmingham zweifellos, als es Felix Mendelssohn Bartholdy für das Fest von 1846 einen Kompositionsauftrag erteilte und die umjubelte Uraufführung des Elias unter Leitung des Komponisten feiern durfte. Gesungen wurde das Werk in einer englischen Übersetzung, die Mendelssohn selbst sorgfältig redigiert hatte. Mendelssohn lobte den Chor, wenn er auch über die „bärtigen Alti“ staunte – bis 1900 sangen im Festchor aus alter Kathedraltradition heraus noch Männerstimmen den Alt, und bis 1881 wirkten auch noch Knaben im Sopran mit.
Town Hall, Birmingham,
During The Festival (Engraving)
Elias
Felix Mendelssohn Bartholdy
MWV A 25 (op. 70), 1845-1846
Carus 40.130/00
Die Liste der geistlichen oratorischen Werke, die als Auftragskompositionen für ein britisches Musikfest entstanden sind, ist lang. Sie umfasst unter anderem Werke von Sigismund Neukomm (David, Birmingham 1833), Louis Spohr (The Fall of Babylon, Norwich 1842), Niels Gade (Zion, Birmingham 1876), Charles Gounod (La Rédemption, Leeds 1882 und Mors et Vita, Birmingham 1885), Dvořák (St. Ludmila, Leeds 1886, Requiem, Birmingham 1891), Camille Saint-Saëns (The Promised Land, Gloucester 1913) und viele andere. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte es zum guten Ton, einheimische Komponisten zu beauftragen. William Sterndale Bennett, Arthur Sullivan, Charles Villiers Stanford, Hubert Parry – sie alle komponierten Oratorien für die Musikfeste, wobei sich erst Edward Elgars The Dream of Gerontius (Birmingham 1900), The Apostles (Birmingham 1903), und The Kingdom (ebenda 1906) sich dauerhaft im Konzertleben etabliert haben.
Große Ehre – und organisatorische Stolpersteine
So bedeutend und ehrenvoll ein solcher Musikfest-Auftrag auch war, der Prozess von der Auftragserteilung bis zur Aufführung verlief oft eher holprig. Als Dvořák seinen Auftrag für das Musikfest 1891 erhielt und daraufhin sein Requiem komponierte, zogen sich die Honorarverhandlungen derart in die Länge, dass der Auftrag beinahe geplatzt wäre. Edward Elgar hingegen fand einfach kein Libretto, als er einen Auftrag für das Musikfest in Birmingham 1900 erhielt. Im Januar reiste ein Vertreter des Musikfests persönlich an, und erst jetzt einigte man sich auf den Dream of Gerontius des verstorbenen Birminghamer Kardinals John Henry Newman. Für die Komposition, die Erstellung des Notenmaterials und die Proben blieb danach so wenig Zeit, dass Chor und Solisten in der Uraufführung streckenweise einen Halbton zu tief sangen. Auch Mendelssohn Bartholdy hatte zwischen dem Auftrag für den Elias im Januar 1846 und der Uraufführung im Oktober nur wenig Zeit. Er entschloss sich nach der Uraufführung zu einer gründlichen Überarbeitung des Werks.
Louis Spohr
Daguerreotypie
Bei anderen Musikfesten gab es ähnliche Probleme. Das Musikfest in Norwich beispielsweise pflegte eine enge Verbindung zu Louis Spohr, dem man 1842 einen Kompositionsauftrag für ein neues Oratorium erteilte. Da es bei früheren Aufführungen seiner Werke, vor allem Des Heilands letzte Stunden, wegen der englischsprachigen Fassung größere Werkeingriffe hatte geben müssen, schlug man ihm 1842 gleich eine englische Textvorlage vor: The Fall of Babylon – und das, obwohl Spohr kaum Englisch sprach. Und am Ende untersagte sein Landesherr in Kassel Spohr auch noch die Reise zum Musikfest… Gounod wiederum wagte es im Jahr 1885 gar nicht erst, zur Uraufführung seines Mors et Vita nach England einzureisen, da er in einen gerichtlichen Prozess mit einer ehemaligen Freundin verwickelt war. Dieser hatte schon drei Jahre zuvor dafür gesorgt, dass er die Uraufführung von Redemption 1882 nur unter Polizeischutz leiten konnte.
Überregional bekannt und mit internationalen Kräften besetzt, boten die Musikfeste des 19. Jahrhunderts ein großartiges Forum für Oratorien und andere chorsinfonische Werke. Zugleich förderten sie in beeindruckender Weise zugleich lokale Charity und die zeitgenössische Chormusik.
Dr. Barbara Mohn ist seit 1994 Lektorin im Carus-Verlag; von 2000 bis 2008 leitete sie dort die Editionsstelle der Rheinberger-Gesamtausgabe.
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