Über Mendelssohn, kulturelle Unterschiede und das Brückenbauen
Interview mit dem Music Director des National Symphony Orchestra of Taiwan
Jun Märkl ist Music Director des National Symphony Orchestra of Taiwan und sprach mit Carus über die Unterschiede zwischen deutscher, taiwanesischer, japanischer und amerikanischer Chorpraxis und über das Brückenbauen zwischen den Kulturen. Das Interview führte Carus-Geschäftsführerin Ester Petri im Frühjahr 2023.
Petri: Lieber Herr Märkl, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen. Sie arbeiten mit sehr vielen sehr renommierten Orchestern und Opernhäusern der Welt. Seit letztem Jahr sind Sie auch Music Director des National Symphony Orchestra of Taiwan und haben da eine neue Konzertreihe initiiert. Was war Ihnen bei dieser Konzertreihe am wichtigsten?
Märkl: Das ist für mich eine generelle Frage, wenn Sie die Symphonie-Orchester oder unsere klassische Musik sehen, dann ist das eine europäische Erfindung, wenn man das in Asien hat, muss man sich fragen, wie man eine Verbindung zu dem Land herstellt. Da überlege ich sehr intensiv über Konzepte, Programme, Ideen und Visionen: Wie kann man klassische Tradition mit der Geschichte des Landes, der Mentalität der Menschen verbinden? Das sehe ich als meine Hauptaufgabe.
Sie haben zwei große Chorwerke von Mendelssohn für die Konzertreihe ausgewählt. Der 42. Psalm, Wie der Hirsch schreit und Die erste Walpurgisnacht, aus Carus-Ausgaben, das freut uns natürlich. Wie passen diese zwei Werke zu Ihrem Konzept?
Die Strategie ist, auf die Eigenheiten des Landes einzugehen, da habe ich in dieser Saison die Natur in den Mittelpunkt gestellt. Taiwan ist eine Insel und die Natur spielt eine ganz große Rolle, Taifune, Erdbeben, Vulkane und das Meer darum herum. Das ist ein Element, was die Menschen viel stärker spüren als wir in Deutschland. Ein weiterer Punkt ist, dass ich mich bestimmten Komponisten widme, in dieser Saison Mendelssohn. Was ich traurig finde, ist, dass ich den Elias in diesem Jahr nicht machen kann, aber eben dafür kommen diese anderen zwei Werke, die nicht so oft aufgeführt werden. Diese Werke sind Kostbarkeiten und die Gelegenheit, sie zu hören, ist deutlich schwieriger, insofern ist es besonders schön, dass wir sie aufführen können. Der Elias ist aber ein Stück, das ich sehr gerne mache, und wenn ich es mache, dann mache ich das mit Ihren Noten hier.
Das ehrt uns ja in dem Fall dann.
Warum ich diese Ausgaben so gerne mag, das sind mehrere Sachen. Einmal sind sie super gedruckt. Es ist ein Genuss, diese Noten anzusehen und die gehen dann auch natürlich viel leichter in den Kopf. Und dann ist es die Sorgfalt, mit der diese Ausgaben von Ihnen gemacht werden. Das ist sehr, sehr hochwertig und deshalb benutze ich die gerne, vor allem, wenn ich die Auswahl habe, dann vergleiche ich und komme immer auf Ihren Verlag zurück.
Das höre ich natürlich sehr gerne. Sehen Sie denn einen Unterschied, in dem was eine Ausgabe für einen Chor in Japan, Taiwan und in Deutschland, Amerika braucht? Also achten die auf was anderes, haben die eine andere Leseerfahrung?
Es gibt schon einen kleinen Unterschied, wenn wir zum Beispiel Mendelssohn machen, dann ist es für uns überhaupt keine Frage, das ist auf Deutsch. Wenn Sie jetzt in Amerika sind, muss ich diese Werke immer auf Englisch machen. Aber jetzt kommt der Punkt, wie arbeiten Japaner und Taiwaner. Die schreiben in Japanisch oder Chinesisch den Text drunter, und dann schreiben sie noch die Aussprache. Bei den Chornoten würde ich das zum Nachdenken geben, dass genug Platz ist unter dem Text oder darüber, dass die das für sich weiterbearbeiten können.
Weil Sie es sagen, auch Lautsprache ist natürlich ein Thema, wir haben bei Carus digitale Übe-Hilfen. Wird das trotzdem genutzt, oder schreiben sich die Leute das selber auf?
Kann ich nicht so sagen, aber, wenn ich in diese digitalen Überhilfen reinschaue, dann finde ich das ein ganz tolles Angebot. Und für Sie als Verlag ist das natürlich auch etwas, was Sie auch anbieten können für Werke, deren Material Sie sonst nicht im Angebot haben können, dadurch können Sie Ihr Betätigungsfeld deutlich ausweiten. Eine wunderbare Sache.
Elias
Ein Oratorium nach Worten des Alten Testaments. Aus der Reihe Stuttgarter Mendelssohn-Ausgaben.
Carus 40.130/00
Wie der Hirsch schreit
Der 42. Psalm. Aus der Reihe Stuttgarter Mendelssohn-Ausgaben.
Carus 40.070/00
Die erste Walpurgisnacht
Ballade für Chor und Orchester. Aus der Reihe Stuttgarter Mendelssohn-Ausgaben.
Carus 40.138/00
Lobgesang
Sinfonie-Kantate. Aus der Reihe Stuttgarter Mendelssohn-Ausgaben.
Carus 40.076/02
Geistliches Chorwerk
Einspielung mit Frieder Bernius und dem Stuttgarter Kammerchor.
Carus 83.020/00
Wir haben erfahren, dass Sie anderen Dirigenten den Lobgesang von Mendelssohn sehr empfehlen. Warum gerade den?
Der Lobgesang ist so ein Zwitterding und deswegen sagen viele „Ich habe keinen Zugang dazu.“ Ich komme von der Oper, das sind so die ersten 20 Jahre meiner Tätigkeit. Die nächsten 20 Jahre die symphonischen Bereiche, aber mich fasziniert die Singstimme, die Arbeit mit Solisten, mit Chören. Mir macht das nichts aus, wenn ich diese Elemente in symphonischen Werken habe. Der Lobgesang fängt als Symphonie an und geht dann als Oratorium weiter. Sehr typisch für Mendelssohn, der versucht hat, immer wieder neue Formen zu finden. Insofern ist es eine wichtige Station. Wenn man sich mit den Symphonien beschäftigt, dann gehört die dazu.
Für mich kommt gerade sehr gut raus, dass Sie ein Mendelssohn-Botschafter sind. Wie Sie gesagt haben, in Taiwan ist die Chortradition noch kurz, ist Mendelssohn trotzdem so bekannt wie hier? Ist da die Botschafterrolle, die Sie haben, wirklich noch eine gutplatzierte?
In jedem Fall. Mendelssohn beschäftigt sich mit dem Text in einer ganz bestimmten Weise. Es ist etwas, was man gut vermitteln kann. Es zeigt einen sehr tiefen inneren Glauben und stellt Dinge aus dem Alten Testament in den Vordergrund. Dinge, die auch Menschen ohne christlichen Hintergrund nachvollziehen können. Und die Art wie es geschrieben ist für Chöre ist durchaus was, was sie bewältigen können und trotzdem hochanspruchsvoll. Wenn man die Schwierigkeiten bewältigt hat, dann macht das riesen Spaß diese Sachen dann auch zu singen.
Das ist mit das Wichtigste für so einen Chor. Gibt es im asiatischen Raum Komponisten und Komponistinnen wo sie sagen, die müssten wir in Europa unbedingt kennenlernen und andersrum. Wo, sagen Sie, sollten wir uns gegenseitig stärker befruchten?
Die Szene der Komponisten und Komponistinnen hat es nicht leicht: In allen südostasiatischen Ländern sind sie sehr begeistert vom Standardrepertoire, das Publikum für zeitgenössische Musik zu finden ist nicht so leicht. Da habe ich jetzt Programme gemacht, wo ich den Jüngeren die Möglichkeit gebe kurze Stücke zu schreiben und aufzuführen, ich nenne das die „One Minute Symphony“. In einer Minute kriegen Sie raus, ob jemand was zu sagen hat. Einen Studenten zu bitten, eine Fünf-Minuten-Ouvertüre zu schreiben, das geht schief. Aber ein Minutenstück kann er, selbst wenn er ein paar Sachen noch nicht so geschickt macht. Ich stelle den Komponisten ein ganzes Symphonie-Orchester zur Verfügung, aber einen zusätzlichen Chor dazu zu zustellen, wäre dann der nächste Schritt. Etwas Gutes für den Chor zu schreiben ist eine Kunst für sich. Das wäre etwas, was wir in einem gesonderten Programm auch fördern könnten. In dem Zusammenhang finde ich dieses Beethoven Chorbuch ganz toll, das Sie konzipiert haben. Das richtet sich an die Chöre, die genau in diesem Entwicklungsstand sind. Also vielleicht gibt es das dann auch für andere Komponisten.
Das trifft es genau. Wir bereiten gerade das Bruckner-Jubiläum 2024 vor und haben schon lange ein weltliches Chorbuch gehabt, was wir jetzt nochmal aufgefrischt haben. Wir haben jetzt auch – von dem Beethoven-Chorbuch inspiriert – nochmal weltliches Repertoire, das speziell für SATB-Chöre arrangiert und bearbeitet ist. Diese Idee kommt ganz gut an. Ist Bruckner im asiatischen Raum ein Name?
Bruckner ist in anderen Ländern eher nicht so leicht zu vermitteln. Eine Seite, die in Asien und auch in Amerika wichtig ist, sind diese großen Sachen, also Mahler Symphonie, Verdi Requiem, das lässt sich leicht da machen. Aber damit können Sie eigentlich keine Qualität bauen. Insofern würde ich sagen, was hilfreich ist – also Beethoven ist eine tolle Sache. Wenn man den Bereich ein bisschen größer fasst, diese romantischen Sachen: Brahms, Schumann, vielleicht noch Mendelssohn. Aber das Jubiläum gilt in jedem Fall, die schauen hier auf solche äußerlichen Dinge wie Jubiläen. Also das ist als Einführung sicher etwas Richtiges.
Man ist dankbar, wenn man da so einen Anlass hat. Weil wir das auch schon ein bisschen hatten: Am amerikanischen Markt merken wir, dass das Zeitgenössische ganz wichtig ist, da ist im besten Falle auch immer auch eine Uraufführung mit dabei. Wie ist das in Taiwan, Japan?
Das Publikum will das Standard-Repertoire. Aber es gibt immer wieder auch Förderprogramme für zeitgenössische Sachen. Das Problem ist dann, es geht um eine Uraufführung und das war es dann. Etwas Nachhaltiges zu schaffen ist schwieriger. Was hilft sind diese Co-Commissions mit verschiedenen Partnern: Man hat vier, fünf Aufführungen garantiert und, wenn man ganz großes Glück hat, kann man das nochmal mit einer Aufnahme kombinieren. Was wieder ein wichtiger Multiplikator ist, um diese Werke bekannt zu machen. Wenn ich jemandem die japanische Erstaufführung von dem und dem anbieten kann, das ist schon mal etwas, was diesen Klangkörper, ob Orchester oder Chor, ein bisschen auszeichnet und dann machen die das. Das muss aber mit der Uraufführung zusammenhängen, im Nachhinein ist das viel schwieriger. Leider schauen viele nur auf die Ur- oder Erstaufführungen.
Ja, das ist auch überall das gleiche, egal wo man ist. Es ist doch sehr ähnlich. Auch nochmal eine Frage, ob es ähnlich ist, oder nicht: Meine Beobachtung ist, dass in Profiensembles digitale Noten schon zum Einsatz kommen, und in vielen Laienchören ist einfach noch die gedruckte Ausgabe das, was alle in den Händen haben wollen. Wie nehmen Sie das generell wahr? Jetzt nicht zwingend für den asiatischen Markt, aber auch.
Ich muss zugeben, ich bin da ein bisschen altmodisch. Ich liebe Manuskripte und Erstausgaben und Faksimiles, und freue mich mit dem Papier zu arbeiten und das in der Hand zu haben, aber mir ist bewusst, dass das vielleicht nicht die Zukunft ist. Als Angebot gehört das wahrscheinlich in die Zukunft.
Gehört irgendwie mit dazu.
Ja, müssen sie ja anpacken und es ist sicher, glaube ich, eine gute Sache. In Amerika, das kennen Sie wahrscheinlich, hängen die Notenarchive der Orchester zusammen in einem Netzwerk. Wenn ich zum Beispiel den Elias mache, dann mache ich mir am Computer eine Liste und finde heraus: „Ja, da ist eine Frage und das müsste doch eigentlich so sein“. Dann stell ich es ins Netz. Und jedes Orchester macht das für die Werke, die gerade anstehen. Über die Jahrzehnte haben die eine unglaublich große Ressource und können in kürzester Zeit ein Material vorbereiten und auf Topstandard bringen. Da hilft dieses Network unglaublich. Und bei uns in Europa, jeder köchelt da in seinem eigenen Mist und kommuniziert nicht, tauscht nicht. In Asien ist es etwas, was ich versuche jetzt anzuleiern, Kooperationen zu machen. Die sind uns da in Nordamerika um Lichtjahre voraus.
Wir hatten es jetzt von Europa, von Amerika, von Asien. Wo sehen Sie denn Ihre eigene Zukunft? Bis zum Sommer ist es eindeutig, aber so die nächsten 20 Jahre?
Ja, für mich erstmal die Frage, ob man mich 20 Jahre da oder da haben will. Für mich persönlich ist es so, ich habe eine japanische Mutter und habe einen deutschen Vater gehabt. Ich stehe also zwischen den Kulturen. Ich habe mir quasi zum Lebensmotto gemacht, Brücken zwischen Kulturen zu bauen, Verständnis füreinander aufzubauen. Wie ich eingangs über Taiwan erzählt habe, wie kann man westliche Kultur mit der eigenen Kultur verbinden. Ich sehe für uns nur die Möglichkeit: westliche Musik ja, aber mache die Tür auf und versuche asiatische Einflüsse zuzulassen und sie auch zu ermutigen. Und dann kommt auch sicherlich was sehr Interessantes dabei raus.
Das ist eine schöne Aufgabe, das Brückenbauen, das gefällt mir. Ich habe eine letzte Frage: Was ist denn ihr nächstes Chorprojekt? Ihr eigenes?
Mendelssohns Sommernachtstraum, das kommt im Juni. Und dann Oper, aber da ist kein Chor dabei, oder kaum. Pelléas et Mélisandre, das ist ein ganz kleiner Chor, das ist jedenfalls das für diese Saison.
Und gibt es noch ein Chorprojekt, das müssen Sie unbedingt noch machen und haben es, aus welchem Grund auch immer nicht gemacht?
Ja, es gibt schon ein paar große Werke, also Mahler acht, das habe ich noch nicht gemacht. Aber ich muss nicht alles mal gemacht haben, nur um es gemacht zu haben. Sondern, für dieses Stück zum Beispiel muss auch den Unterbau haben, also die Chöre, die Menschen, die das machen können und wollen. Und da baue ich lieber den Boden nach und nach auf.
Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Vielen Dank für das Gespräch, ich habe viel gelernt. Und Ihnen viel Erfolg beim Brücken weiter bauen. Auf bald.
Danke sehr, alles Gute.
Chorbuch Beethoven
Enthält 41 weltliche und geistliche Chorsätze. Herausgeber Jan Schumacher schafft mit dem Chorbuch Beethoven vor allem für Laienchöre, aber auch für Vokalensembles und Kammerchöre einen unverzichtbaren Fundus.
Carus 4.025/00
Chorbuch Bruckner. Weltliche Chormusik
Zeitgenössische Bearbeitungen von Männerchorsätzen und Sololiedern sowie Originalkompositionen für Chor SATB. Auswahl von Simon Halsey und Jan Schumacher.
Carus 4.026/00
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