Weg oder Umweg?

Auf der Suche nach Bach in seiner Notenbibliothek

Dem geistigen und musikalischen Horizont eines großen Komponisten auf der Spur zu sein, ist ein spannendes Unterfangen. Wofür sich ein Bach interessierte – sei es musikalisch, literarisch, theologisch oder gar naturwissenschaftlich –, was neben seinen Kompositionen außerdem noch im Notenschrank gelegen hat, dies sorgt mitunter für mehr Aufsehen als die hundertste Beschäftigung mit schon bekannten Werken dieses Komponisten.

In jüngster Zeit haben hier einige Funde Aufsehen erregt, die den ‚reifen Bach‘ weniger als Schöpfergenius denn als pragmatisch denkenden Kantor und als Lernenden zeigen. Sie erlauben es, Musikgeschichte und zeitgenössisches Umfeld Bachs durch seine Brille zu betrachten. Jedenfalls dürfte es uns so vorkommen, wenn wir Werke aus Bachs Notenbibliothek untersuchen oder aufführen. Und damit steht jener Genius gleich nicht mehr so hoch auf dem berühmten Sockel! Man scheint ihm damit fast näher zu Leibe zu rücken als durch ein intensives Studium seiner Komposi­tionen allein. Wenn wir ihn uns ganz praktisch als Kantor mit alltäglichen, pragmatisch zu bewältigenden Aufgaben vergegenwärtigen, bekommen wir leichter einen direkten Draht zu ihm – und scheinen dann auch noch seinem Denken etwas näher zu kommen.

Bei Mozart, Beet­hoven und Bach hatte man von jeher ein starkes Interesse an ihren Notenbibliotheken. Es existieren zwar kurz nach ihrem Tode angefertigte Verzeichnisse ihres materiellen Besitzes, doch gibt es dabei einen großen Haken: Solche Listen wurden mitnichten angefertigt, um den realen Besitz – etwa für die musikalisch interessierte Nachwelt – zu umschreiben, sondern um steuerlich oder erbschaftsmäßig relevante Daten zu erheben. Es erscheinen hier also weniger musikalische Quellen als vielmehr klar zu bemessende Waren: Hab und Gut aus der Wohnung, Kleidung, Bücher, aber auch Anteilsscheine, Aktien o. ä. werden meist sehr detailliert angegeben. Aber gerade das, was uns brennend interessiert, ist in einem dieser Nachlassverzeichnisse kaum je zu finden: Was brachte ein Komponist an fremden Werken zur Aufführung? Was hoffte er daraus zu lernen und wie ging er mit diesen Werken schöpferisch um?

Dr. Christine Blanken studierte Historische und Systematische Musikwissenschaften sowie Germanistik an den Universitäten Göttingen und Wien. Von 1999 bis 2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Johann Sebastian-Bach-Institut Göttingen; seit 2005 arbeitet sie am Bach-Archiv Leipzig. Sie leitet dort das Referat Forschung II.

Johann Sebastian Bach
Ein feste Burg ist unser Gott
Kantate zum Reformationsfest, Rekonstruktion Klaus Hofmann
BWV 80 (BWV3 80.3)
Carus 31.080/00

Im Falle Bachs sind in der im Herbst 1750 angelegten „Specificatio der Verlaßenschaft“ zwar 52 Einträge in der Rubrik „An geistliche Büchern“ verzeichnet, entsprechende Kapitel mit sonstiger Literatur oder gar seiner Musikaliensammlung fehlen aber vollständig. Bach selbst war auf Bücher-Versteigerungen als Bieter aktiv, wird also diese Möglichkeit für seine eigene Bibliothek eifrig genutzt haben. Die Suche nach erhaltenen Noten, die Spuren von seiner Hand tragen, läuft seit Jahrzehnten. Sie geht nur langsam voran, denn hier ist viel Insiderwissen notwendig, das nur bruchstückhaft und überhaupt nur durch investigative Methoden erlangt werden kann: eben durch genaue Kenntnis seiner Schrift und ihrer chronologischen Sta­dien, der Schriftcharakteristika seiner vielen Kopisten, seiner verwendeten Notenpapiere, der üblichen und der unüblichen Überlieferungswege von Quellen aus seiner Feder.
Der eher leichte Teil dieser Aufgabe besteht darin, jenen Teil des Erbes zu untersuchen, der an seinen Sohn Carl Phi­lipp Emanuel ging. Da davon ein Großteil eben immer noch vorhanden ist und der Sohn später selbst sein Nachlassverzeichnis vorbereitete – und dies ist wirklich eine Auflistung seiner Kompositionen wie auch seiner Notenbibliothek –, ließen sich hier in der Vergangenheit viele Funde machen.

Am berühmtesten ist hier das so genannte „Alt-Bachische Archiv“, eine vor allem aus Arnstadt stammende Sammlung von Musik der älteren Bach-Familie aus dem Besitz des Vaters. Auch zahlreiche andere Werke aus diesem Erbteil sind mittlerweile längst ediert und auch in der heutigen Musikpraxis etabliert; darunter die Markus-Passion (Carus 35.502), die man früher Reinhard Keiser zugeschrieben hat, die Brockes-Passion von Händel (Carus 55.048) oder das Stabat mater von Pergolesi, das Bach in einer verdeutschten Bearbeitung( Tilge, Höchster, meine Sünden, Carus 35.302) aufführte – oder auch einige Kantaten von seinem Freund Georg Philipp Telemann. Doch hier ist beileibe noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht, weshalb sich Bachforscher seit Jahrzehnten weiterhin um eine Rekonstruktion dieser sicher sehr ansehnlichen Notenbibliothek am Leipziger Thomaskirchhof bemühen.

Am umfangreichsten ist die Gruppe der Messvertonungen aus dieser Notenbibliothek, deren Grundstock mindestens schon in der Weimarer Zeit angelegt worden ist: Hierzu zählen zwei vollständige Messen von Giovanni Pierluigi da Palestrina (Carus 35.301, Carus 35.501), sechs von Giovanni Battista Bassani, weitere von Johann Baal sowie von Bachs entferntem Vetter Johann Ludwig aus Meiningen; Kyrie und Gloria-Messen von Francesco Durante (Carus 35.008), Antonio Lotti (Carus 40.661), Johann Christoph Pez (Carus 35.006), Johann Hugo von Wilderer (Carus 35.309 i. Vorb.) und einem Anonymus (BWV Anh. 25) (Carus 35.007 i. V.) sowie ein Kyrie von Marco Giuseppe Peranda (Carus 35.306) und ein Sanctus von Johann Caspar Kerll (Carus 35.303).

Johann Sebastian Bach
O du angenehmer Schatz
aus: Ehre sei Gott in der Höhe, Rekonstruktion Diethard Hellmann
BWV 197a, 4 (BWV3 197.1)
Carus 31.197/00

Zu den jüngsten Entdeckungen der Leipziger Bach-Forschung gehören nun weitere einzelne Fundstücke dieser Bach’schen Bibliothek, die auf anderem, bislang noch wenig bekanntem Wege überliefert wurden: Eine bisher keinem Komponisten zugeschriebene vierstimmige Kyrie-­Gloria-Messe in e – von Bachs Hand abgeschrieben und von Peter Wollny im Kirchenarchiv im sächsischen Mügeln gefunden – sowie eine vierstimmige kanonische Messe von Francesco Gasparini (Carus 35.503), jüngst ebenfalls von Wollny im Notenarchiv der Weißenfelser Stadtkirche entdeckt. Sie bestätigen wieder einmal, dass der späte Bach nicht nur als vorbereitende Studienobjekte für eigene Kompositionen – am prominentesten hier: Musikalisches Opfer, Kunst der Fuge, h-Moll Messe – intensiven Nutzen aus der älteren, weitgehend kontrapunktisch geprägten italienischen Kirchenmusik zog. Wie überhaupt Stile-antico-Werke seiner (Vor-)Vätergeneration noch zu seiner Zeit den Gottesdienst ganz wesentlich mitbestimmten, darunter die Motetten-Sammlung Florilegium portense (1618/21) von Erhard Bodenschatz aus Schulpforta. Sie war schon seit mehreren Generationen von Thomaskantoren vor ihm in Gebrauch, und es wurden während seiner Amtszeit sogar mehrfach neue Exemplare angeschafft. Was ansonsten – neben den wenigen Werken aus Bachs eigener Feder – an Sanctus- und Magnificat-Kompositionen in den Leipziger Gottesdiensten der Hauptkirchen erklang, bleibt weithin im Dunkeln.
Bei vielen der Messkompositionen legte Bach selbst – wenngleich sehr behutsam – Hand an: Er ergänzte einen primär vokalpolyphonen Satz um weitere Instrumente (die so gut wie immer colla parte mit den Singstimmen geführt werden) und bezifferte Continuostimmen. Damit passte er Werke des Stile antico den örtlichen Gegebenheiten, Musizier- und Hörgewohnheiten an. Im Falle Leipzigs waren das nicht zuletzt die akustischen Erfordernisse der beiden großen Stadtkirchen St. Thomas und St. Nicolai. Ein breiter, instrumental gestützter Klang wurde von Bach (so wie er es auch in Motetten und motettisch geprägten Sätzen in Kantaten zur Regel machte) ganz offensichtlich für weitaus wirkungsvoller befunden als ein reiner Vokalklang. Diese Aufgabe ist nicht als eigenständige, geschweige denn schöpferische Leistung zu werten, sondern als ein pragmatisches Erfordernis, dem Kantoren seit Generationen immer wieder ähnlich begegnen.

Johann Sebastian Bach
Singet dem Herrn ein neues Lied
Kantate zum Neujahrstag, Rekonstruktion Masaaki und Masuto Suzuki
BWV 190 (BWV3 190,1)
Carus 31.190/00

Nur in wenigen Fällen haben die Werke eine stärkere Bearbeitung durch Bach erfahren: einen neu hinzugefügten Satz wie das eigenständige Christe eleison BWV 242 zur Messe von Durante, oder auch einige neu hinzugefügte obligate Instrumentalstimmen, wie zum Sanctus BWV 241 der Missa superba von Johann Caspar Kerll – um nur die Messesätze zu erwähnen.

Ein ‚Zusammenklingen‘ von Bachs Werken mit Kompositionen aus seiner Notenbibliothek ist für die aktuelle Musikpraxis lohnend – über das bloße Bekanntmachen von älterer Kirchenmusik hinaus; kristallisiert sich in einer solchen Gegenüberstellung doch ein Bach heraus, der sich selbst in einen klar umrissenen historischen Kontext stellt und auch heute so gesehen werden sollte. Ebenso lohnend ist es freilich, Kompositionen des 19. bis 21. Jahrhunderts – etwa die Werke Regers zum hundertsten Todestag im Jahre 2016 –, die ohne Bach nicht zu verstehen sind, diesem gegenüberzustellen. Hören wir Bach dazu selbst: „Wozu ich es durch fleiß und übung habe bringen können, dazu muß es auch ein anderer, der nur halbwege naturell und geschick hat, auch bringen.“

Werke von Johann Sebastian Bach

Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80b

Gott ist unsre Zuversicht

Christoph Wolff: Bach vocal. Handbuch

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