Vom Herantasten zum Erstaunen
Beim Singen von Toivo Kuulas „Auringon noustessa / Bei Sonnenaufgang“ wurde Iris Pfeiffer in Erstaunen versetzt.
Kennen Sie Toivo Kuula? Auch Iris Pfeiffer war dieser Name bis vor knapp zwei Jahren völlig unbekannt. Dabei handelt es sich bei Kuulas A-Cappella-Werk um ein Juwel der spätromantischen Chormusik…
Kennen Sie Toivo Kuula? Mir jedenfalls war dieser Name bis vor knapp zwei Jahren völlig unbekannt. Unsere Chorleiterin hatte ein a-cappella-Programm rund um die vier Elemente zusammengestellt und bat mich, die Noten zu Kuulas „Auringon noustessa“ („Bei Sonnenaufgang“) frisch vom Carus-Lager zur Chorprobe mitzubringen. Vor dem ersten Ansingen eine kurze Schrecksekunde im Chor: Sollten wir uns wirklich an den finnischen Text wagen? Die Entscheidung fiel für den deutschen Singtext – wenngleich auch diese Nachdichtung einige Rätsel aufgibt und ein intensives Eindenken erfordert. (Veikko A. Koskenniemi, dessen Gedicht Kuula vertonte, zählt zu den bekanntesten finnischen Poeten, u.a. schuf er den Text zu Sibelius‘ Finlandia.) Es folgte ein vorsichtiges Rantasten an das fein gezeichnete Stimmungsbild eines Sonnenaufgangs in der Stadt, dann ein großes Erstaunen ob der wunderschönen Klangaufbauten, in den späteren Proben mehr und mehr ein Überwältigtsein von der Leidenschaft, mit der Kuula die letzten Worte vertont: „Schau, o mein Herz, wie aus bitterer Qual ewig strahlt die Klarheit ewiger Wahrheit“. „Auringon noustessa“ ist beim Singen ein Lieblingsstück geworden, ein Juwel spätromantischer Chormusik, das bei Sängern und Zuhörern gleichermaßen für Gänsehaut sorgen kann und das mit nur vier Minuten Dauer musikalisch eine Menge zu bieten hat: zarte pianissimo-Klangflächen, ein kurzes Fugato, eine klangvolle vierstimmige Männerchorpassage, die große Geste am Ende.
Und nun noch ein Wort zu Toivo Kuula. Er war der erste Kompositionsstudent von Jean Sibelius, der ihn – wie auch die zeitgenössischen französischen Komponisten, deren Werke Kuula während einer Studienreise kennenlernte – maßgeblich prägte. In der finnischen Musikgeschichte gilt Kuula als tragisch-romantische Persönlichkeit, zum einen wegen seines stürmischen Charakters, zum anderen aufgrund seines frühen, dramatischen Todes: Im Mai 1918, gegen Ende des finnischen Bürgerkriegs, wurde er im Alter von nur 35 Jahren bei einem Streit von einem betrunkenen Offizier erschossen. Vor allem in seiner Heimat hat er mit seinen Vokalkompositionen viel Anerkennung gefunden. Als Kuulas wichtigstes Werk gilt sein Stabat Mater für Chor und Orchester, an dem er bis zu seinem Tod gearbeitet hat.
„Kuula was a brilliant, tempestuous, glowing representative of Finland’s burgeoning music and his brief lifetime achieved only what can usually be called a composer’s ‘first‘ or early period.“ Erkki Salmenhaara
Iris Pfeiffer, Musikwissenschaftlerin und seit 2003 bei Carus, ist Leiterin des Bereichs „Produktion und Kommunikation“.
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