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Bachs Johannes-Passion und ihre dramatische Entstehungsgeschichte
Bach zog in seiner Johannes-Passion alle Register: Das aufgebotene Orchester umfasste bereits in der Urfassung des Stücks nahezu alle denkbaren Instrumente (abgesehen von Blechblasinstrumenten, deren Einsatz in Passionsmusiken undenkbar war). Sein namentlich unbekannter Textdichter bediente sich einer sehr bildhaften Sprache. Der wuchtigen Sprache fügte Bach ein Meer an musikalischen Affekten hinzu, das in seiner Vielfalt und Vielschichtigkeit überwältigend und im besten Sinne „theatralisch“ ist.
Als der Köthener Hofkapellmeister Johann Sebastian Bach im Frühsommer 1723 sein Amt als Leipziger Musikdirektor und Kantor der Thomasschule antrat, rückte das wöchentliche Aufführen, respektive Komponieren von Kantaten für die Gottesdienste an den Sonn- und Festtagen in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit. Zudem ergab sich für ihn die Verpflichtung, jährlich im Vespergottesdienst am Karfreitag eine musikalische Schilderung von einem der vier biblischen Passionsberichte abzuliefern. Letzteres war für den Kantor gewiss die größte Herausforderung, übersteigt doch die Länge einer Passionsmusik diejenige einer Kantate um das Vielfache. Aber weil während der sechswöchigen Fastenzeit in Leipzig ein strenges Musizierverbot herrschte, stand Bach vergleichsweise viel Vorbereitungszeit zur Verfügung. Und so konnte er bereits in seiner ersten Karfreitagsvesper, am 7. April 1724, dem Ereignis seinen ganz persönlichen Stempel aufdrücken. Dabei musste er allerdings Fingerspitzengefühl walten lassen. Die seit 1721 auch in Leipzig Usus gewordene Praxis figuraler Passionsmusiken, war (noch) umstritten. Das Zusammenwirken von gesungener Rezitation eines Evangelientextes und dem Erklingen freigedichteter Arien und Chöre, die den biblischen Passionsbericht stimmungsvoll und oft dramatisch ausschmücken und reflektieren, fühlte sich für manche Zeitgenossen zu sehr nach „Geistlicher Oper“ an. Auch deshalb hatte Bach 1723 in seinem Anstellungsvertrag als Thomaskantor versprechen müssen, er werde „die Music dergestallt einrichten, daß sie nicht zu lang währet, auch also beschaffen seyn möge, daß sie nicht opernhafftig herauskömmt, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht ermuntert.“
Dr. Michael Maul studierte Musikwissenschaft, Journalistik und Betriebswirtschaftslehre. Seit 2002 arbeitet Maul als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bach-Archiv, seit 2018 ist er Intendant des Bachfest Leipzig. Maul ist Mitglied im Direktorium der Neuen Bachgesellschaft und wissenschaftlicher Betreuer des Projektes Musikerbe Thüringen. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig und an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig.
Dennoch zog Bach in seiner Johannes-Passion alle Register, auch des dramatischen Fachs: Das aufgebotene Orchester umfasste bereits in der Urfassung des Stücks nahezu alle denkbaren Instrumente (abgesehen von Blechblasinstrumenten, deren Einsatz in Passionsmusiken undenkbar war). Sein namentlich unbekannter Textdichter bediente sich einer sehr bildhaften Sprache und bezog dabei manche Anleihen aus dem berühmten Libretto „Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ des Hamburger Patriziers Barthold Hinrich Brockes (1712), das seinerseits mit starken Metaphern aufwartet. Der wuchtigen Sprache fügte Bach ein Meer an musikalischen Affekten hinzu, das in seiner Vielfalt und Vielschichtigkeit überwältigend und im besten Sinne „theatralisch“ ist. Angesichts dieser unverkennbar auf Dramatik abzielenden Strategie verwundert es nicht, dass Bach und sein Textdichter für das Libretto auch textliche Anleihen aus dem Passionsbericht nach Matthäus bezogen, etwa für die Schilderung der Ereignisse rings um Golgatha unmittelbar nach der Kreuzigung Jesu, die im Johannes-Evangelium fehlt. Hierzu entwarf Bach eine Musik, die atemberaubend hörbar macht, dass die Welt im Moment von Jesu Tod buchstäblich aus den Fugen gerät.
Als im Frühjahr 1725 für Bach wieder die Aufführung einer Passionsmusik anstand, entschied er sich für eine erneute Darbietung der Johannes-Passion, präsentierte sie aber in einer wesentlich veränderten Fassung. Drei Arien fügte er neu hinzu und strich dafür ältere Stücke. Sowohl den Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ als auch den Schlusschor („Ach, Herr, lass dein lieb Engelein“) ersetzte er – ersteren durch eine groß angelegte Bearbeitung des Passionsliedes „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ (später Schlusschor des ersten Teils der Matthäus-Passion); letzteren durch die ausgedehnte Choralfantasie über „Christe, du Lamm Gottes“ aus seiner Leipziger Probekantate Du wahrer Gott und Davids Sohn BWV 23. Der Schritt erklärt sich wohl nur mit Blick auf den Umstand, dass Bach in seinem zweiten Leipziger Jahr Sonntag für Sonntag Kantaten auf bekannte Choräle schuf. Mit den vorgenommenen Änderungen fügte sich die dramatische Johannes-Passion besser in das Konzept des Choralkantatenjahrgangs ein.
Die dritte Fassung der Johannes-Passion, aufgeführt am Karfreitag 1732, kam wesentlich zurückhaltender daher. Anscheinend wurden die 1725 hinzugefügten Arien und Chöre weitgehend wieder entfernt; auch die aus dem Matthäus-Evangelium übernommenen dramatischen Textpassagen wurden gestrichen. Leider haben sich die 1732 von Bach neu eingefügten Stücke nicht erhalten, darunter eine rätselhafte „Sinfonia“, die anstelle der gestrichenen Erdbebenszene nach dem Tod Jesu und der so eindrucksvollen Sopranarie „Zerfließe, mein Herze“ musiziert wurde. Was muss das für ein Stück gewesen sein!
Johannes-Passion
Bachs Johannes-Passion erlebte mehrere grundlegende Umgestaltungen durch den Komponisten. Carus bietet alle erhaltenen Fassungen, darunter die von Bach musizierten Fassungen II und IV.
Fassung I (1724)
Ähnlich Fassung IV, aber nicht rekonstruierbar
Die Sätze 19 und 20 sind in der Besetzungsvariante mit Violen d’amore und Laute erhältlich
Fassung II (1725)
Fassung weicht am stärksten von der bekannten Fassung ab und gliedert die Johannes-Passion in den Choralkantatenjahrgang ein.
Die Besetzung entspricht jener von 1749, aber mit leicht abweichender Oboenbesetzung und ohne Bassono grosso
- Partitur: Carus 31.245/50
- Klavierauszug: Carus 31.245/53
- Stimmenset: Carus 31.245/69
Vier Jahre später (1736) fertigte Bach eine sorgfältige Reinschrift seiner Matthäus-Passion an und goss das Stück damit in eine endgültige Form. Es hat den Anschein, dass er Ende der 1730er Jahre mit der Johannes-Passion ähnlich verfahren wollte. Jedenfalls setzte er damals – offenbar in der Passionszeit 1739 – zu einer endgültigen Partitur der Johannes-Passion an. Merkwürdigerweise blieb diese Reinschrift ein Torso; Bach gelangte nicht über die ersten zehn Sätze hinaus. Die Gründe für den Abbruch des Projektes „Fertigstellung Johannes-Passion“, das allem Anschein nach in einer neuerlichen Aufführung der Passion am Karfreitag 1739 münden sollte, sind nicht genau ersichtlich. Eine Protokollnotiz aus dem Rathaus überliefert, dass der Stadtrat damals aus unbekannten Gründen Bach die Darbietung seiner Passionsmusik untersagte.
Was auch immer 1739 Bachs Pläne einer endgültigen Version der Johannes-Passion vereitelte: Es wog nicht schwer genug, um ihn von einer weiteren Aufführung des Stückes abzuhalten, die nach Einschätzung des Schriftbefundes in den Originalstimmen am Karfreitag 1749 oder gar in Bachs Todesjahr 1750 stattgefunden haben muss. Bei dieser Aufführung kehrte Bach in vielen Details zur ursprünglichen Fassung zurück. In den Sätzen 19 und 20 hingegen ordnete er Uminstrumentierungen an: im Continuo in Satz 19 Cembalo statt Laute und Orgel; in den Sätzen 19 und 20 zwei Violinen „con sordino“ statt zuvor zwei Viole d’amore. Ebenfalls in den Sätzen 19 und 20 sowie in Satz 9 kam es zu folgenden Textänderungen:
Fassung IV (1749)
Die Fassung, die von Bach 1749 aufgeführt wurde, entspricht weitgehend der Fassung I und ab Satz 11 auch der häufig aufgeführten traditionellen Fassung, allerdings mit z.T. deutlichen Textänderungen und einer etwas abweichenden Besetzung.
- Partitur: Carus 31.245
- Klavierauszug: 31.245/03
- Stimmensetz: 31.245/19
Partitur und Aufführungsmaterial erlauben die Aufführung der Fassung von 1749 sowie der traditionellen Fassung.
Ursprünglicher Text | Text der Fassung IV (1749) |
---|---|
9. Aria (Soprano)
Ich folge dir gleichfalls |
9. Aria (Soprano)
Ich folge dir gleichfalls, |
19. Arioso (Basso)
Betrachte, meine Seel‘, |
19. Arioso (Basso)
Betrachte, meine Seel‘, |
20. Aria (Tenore)
Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken |
20. Aria (Tenore)
Mein Jesu, ach! dein schmerzhaft bitter Leiden |
Es ist viel darüber nachgedacht worden, ob die Änderungen aus theologischen Motiven erfolgten oder – speziell in den Nummern 19 und 20 – die starken, vielleicht inzwischen als schwülstig empfundenen Metaphern der hochbarocken Lyrik abschwächen sollten. Die Eingriffe könnten freilich auch auf den Übereifer des verantwortlichen Hauptkopisten zurückgehen: Johann Nathanael Bammler (1722–1784). Bammler, seit 1737 Alumne an der Thomasschule und zuletzt Chorpräfekt, stellte weite Teile des Aufführungsmaterials für die Fassung 1749 her. In der Folgezeit lässt er sich vielfach als Bewerber auf eine freie Kantorenstelle in Mitteldeutschland nachweisen. Stets präsentierte er sich dabei als ein Sonderling, denn er pflegte seine Bewerbungsschreiben nicht – wie sonst üblich – in schlichter, nüchterner Prosa zu verfassen. Stattdessen lieferte er Verse, oft angelegt als Lobgedichte auf die Stadt, in der er sich gerade um ein Kantorenamt bewarb. In seiner letztlich erfolglosen Bewerbung um das Stadtkantorat im sächsischen Schneeberg (1753) etwa reimte er über seine Zeit auf der Thomasschule und als Präfekt des Chors:
Dass ich von Jugend auf stets die Musik verehrt, | die mir vergnügte Lust und lange Brot beschert. | In jener Lindenstadt, wo Kunst und Weisheit fließen, | gab sie mir auf elf Jahr fast alles zu enießen, | da mich auch selbst ein Bach nicht ungeschickt geschaut, | der mir drei Jahre lang Musik und Chor vertraut. | Dass wenn mir Gott einmal ein solches Dienstchen gönnte, | ich es ohn‘ Hindernis ganz wohl bestreiten könnte. […]
Traditionelle Fassung (1739/1749)
Nach wie vor am häufigsten aufgeführt wird die traditionelle Fassung nach der teilautographen Partitur.
- Klavierauszug: Carus 31.245/93
- Carus Choir Coach (Audio only): Carus 31.245/85
- carus music, the Choir Coach : Carus 73.245/02
Auffällig an den erhaltenen Notenmaterialien zur vierten Fassung der Johannes-Passion ist auch der sich abzeichnende große Aufführungsapparat:
Nach Ausweis der Originalstimmen besetzte Bach die üppige Continuo-Gruppe diesmal (neben den tiefen Streichern) mit zwei Cembali, einer Orgel und – erst- und einmalig bei Bach – mit einem „Bassono grosso“, d. h. mit einem Kontrafagott. Außerdem scheint es, dass Bach bei der späten Aufführung mit der Sängerbesetzung experimentierte. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der greise Kantor anlässlich der Aufführung mit bereits zitternder Hand eine separate Stimme für „Petrus & Pilatus“ ausschrieb, die nur diese Partien enthält und ansonsten von dutzenden tacet-Vermerken bestimmt ist. Bei den früheren Darbietungen waren diese Bass-Partien laut der älteren Stimmensätze – wie auch die aller anderen handelnden Personen – aus dem Chor heraus gesungen worden. Es hat also den Anschein, als sollten bei der Aufführung 1749/50 die Sänger der handelnden Personen weder die Choräle noch die Chöre mitsingen, sondern von den übrigen Sängern separiert aufgestellt werden. Wenn wir die Quellen richtig deuten, experimentierte der alte Bach bei seiner letzten dokumentierten Darbietung der Johannes-Passion also mit einer Aufführungspraxis, die deutlich näher an derjenigen des 19. Jahrhunderts war, als wir dies heute gemeinhin annehmen. Sie hätte der dramatischen Johannes-Passion weit mehr als zuvor den Charakter eines Passionsspiels verliehen. Aber dies bleibt – wie vieles zur Johannes-Passion – Spekulation: weil letztlich zu keiner der vier dokumentierten Fassungen das vollständige Aufführungsmaterial erhalten geblieben ist.
An diesem Umstand freilich sollten sich diejenigen Musiker und Musikwissenschaftler nicht stören, die heute mühsam versuchen, eine der originalen Fassungen zu rekonstruieren oder sich an einer eigenen Lösung probieren. Denn eines lehrt uns Bachs – teils pragmatischer – Umgang mit seiner Johannes-Passion doch ohne jeden Zweifel. Er straft all diejenigen Lügen, die behaupten, der überlieferte Notentext sei die einzige verbindliche Wahrheit und jedwede Verzierung oder Veränderung über das schriftlich Fixierte hinaus ein Sakrileg. Bach hat bei jeder Darbietung seiner Johannes-Passion mit der Disposition und klanglichen Wirkung des Stückes experimentiert. Und: Er konnte oder wollte sich bis zuletzt nicht auf eine verbindliche Werkgestalt festlegen. Damit hat er der Nachwelt nicht nur ein vollständiges und zugleich unvollendetes Werk hinterlassen, sondern ihr zugleich die Aufgabe übertragen, selbst mit einer Mischung aus Demut, Kreativität und Pragmatismus zu überzeugenden „Fassungen“ zu gelangen.
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