Im Freien zu singen
Die Chorlieder von Felix Mendelssohn Bartholdy
Die romantische Idee, Chorlieder im Freien erklingen zu lassen, versuchte Mendelssohn mehr als einmal in die Tat umzusetzen. In einem Brief vom 3. Juli 1839 beschrieb er, wie er mit einem Chor tief im Wald gesungen habe. „Wie lieblich da der Gesang klang, wie die Sopranstimmen so hell in die Luft trillerten, und welcher Schmelz und Reiz über dem ganzen Tönen war, alles so still und heimlich und doch so hell – das hatte ich mir nicht vorgestellt … da war es in der Waldstille bezaubernd, daß mir beinah die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es.“ Erfahren Sie mehr über die noch immer wenig bekannten Chorlieder von Felix Mendelssohn Bartholdy in diesem Beitrag des Mendelssohn-Experten R. Larry Todd.
Sei es nun gerechtfertigt oder nicht: Faktisch gehören die Chorlieder von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) nach wie vor zu dessen weniger bekannten Kompositionen, obwohl sie einen nicht unerheblichen Teil seines Schaffens ausmachen. Insgesamt komponierte er einundsiebzig dieser Werke: dreiunddreißig für gemischten und achtunddreißig für Männerchor. Das älteste Chorlied stammt aus dem Jahr 1820, das jüngste aus dem Jahr 1847 – Mendelssohn befasste sich also während seines gesamten Schaffens mit diesem Genre. Doch von den erhaltenen Liedern veröffentlichte der außerordentlich akribisch veranlagte Komponist lediglich vierundzwanzig in insgesamt vier Bänden (op. 41, 48, 50, and 59), während vierzehn weitere erst posthum in Druck gingen (op. 75, 88 and 100). Fast die Hälfte der Lieder wurde also nicht über das Manuskriptstadium hinaus entwickelt; einige sind bis heute nicht veröffentlicht.
Alle Hörbeispiele aus:
Mendelssohn: Lieder
im Freien zu singen
Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius
CD Carus 83.287
Mendelssohn schrieb einige seiner Lieder für gemischten Chor zu ausgesuchten Anlässen, darunter der Geburtstag seines Kompositionslehrers Carl Friedrich Zelter im Jahr 1828 (Lasset heut am edlen Ort, auf einen Text von Goethe), 1829 zur Abschaffung der Sklaverei auf der Insel Ceylon (The Sun is Dancing on the Streams, Musik verschollen), 1845 anlässlich der Beerdigung des Laiensängers Theodor Zimmermann (Sahst du ihn herniederschweben, posthum veröffentlicht als op. 116) und schließlich im selben Jahr anlässlich eines Schiller-Festes in Leipzig (Die Frauen und die Sänger). Eines der Lieder für Männerchor entstand im Jahr 1826 als sogenanntes Schwimmlied (Stromübergang; laut Eduard Devrient komponierte Mendelssohn mehrere Schwimmlieder, die jedoch nicht überliefert sind). Ein weiteres entstand 1832 für eine Freimaurerloge in Weimar (Öffnet euch, geweihte Pforten), ein drittes 1833 anlässlich eines Dürer-Festes in Düsseldorf (Musikantenprügelei), und mit einem vierten (Süße Düfte, milde Lüfte freundlich uns umziehn) löste Mendelssohn 1837 eine Wettschuld bei dem Frankfurter Juristen Franz Bernus ein. Überwiegend waren die Lieder jedoch für spontane Hausmusiken und für die aufkommenden Liedertafeln und andere Gruppen gedacht, die in dieser Zeit sehr zur Popularität von Laienchören beitrugen.
Mendelssohn befasste sich während seines gesamten Schaffens mit dem Genre Chorlied
Mendelssohn setzte diese Stücke überwiegend als einfache Strophenlieder, für die er das musikalische Material einer Strophe in den nächsten wiederverwendete und wiederholte. Nur gelegentlich entschied er sich für andere Formen, indem er z.B. für einen Binnenvers kontrastierende Musik verwendete (Mailied, op. 41 Nr. 5 und Auf dem See, op. 41 Nr. 6) oder den Satz als spielerischen Kanon gestaltete (Lerchengesang, op. 48 Nr. 4, und Die Nachtigall, op. 59 Nr. 4). Mendelssohn neigte nicht nur zur Verwendung einfacher Muster, sondern bevorzugte in diesen Stücken außerdem geradlinige homophone Texturen, um die Musik möglichst zugänglich zu gestalten. Mit Ausnahme der wenigen Kanons unter ihnen (Mendelssohn beherrschte selbstverständlich die Kunst des Kontrapunktes hervorragend und konnte problemlos komplexe Fugen oder anspruchsvolle Kanons verfertigen), weisen die mehrstimmigen Lieder – wenn überhaupt – höchstens kurze Passagen in imitativem Stil auf, die ein wenig Abwechslung in die überwiegend akkordbestimmte Textur der Stücke bringen. Auf ähnliche Art und Weise bezieht Mendelssohn den harmonischen Kontext seiner Lieder aus der diatonischen Klangumgebung der Grundtonart; chromatische Einfärbungen verwendet er relativ selten, in der Regel angelehnt an entsprechende Wendungen im Text, wie z. B. in Im Walde, op. 41 Nr. 1 („Ich fühle mich im Herzen krank“), Ruhetal, op. 59 Nr. 5 („frag’ ich oft mit Thränen”) oder dem geradezu ikonischen Abschied vom Walde, op. 59 Nr. 3 („Da draußen, stets betrogen, saust’ die geschäft’ge Welt“), einem Werk, das dank seiner großen Beliebtheit den Status eines Volksliedes erreicht hat.
Während seines gesamten, wenn auch kurzen Berufslebens, war Mendelssohn als Chordirigent sehr gefragt. Er spielte eine zentrale Rolle in der Renaissance der großen Chorwerke von J. S. Bach, Händel und Haydn im Rahmen groß angelegter öffentlicher Musikfeste, in die hunderte von Ausführenden involviert waren. Die mehrstimmigen Lieder zielten jedoch auf einen intimeren künstlerischen Ausdruck, den Mendelssohn als die natürlichste Form von Musik betrachtete, wie er am 1. August 1839 in einem Brief an seinen Freund Karl Klingemann erläuterte:
Die 4 stimmigen Lieder will ich fortsetzen, da habe ich mir mancherlei ausgedacht, was mit der Art vorgenommen werden kann, und die natürlichste Musik von allen ist es doch, wenn 4 Leute zusammen spazieren gehen, in den Wald, oder auf dem Kahn, und dann gleich die Musik mit sich und in sich tragen. […] Schick mir doch ein Lied oder ein Paar, im Herbst zu singen, oder noch besser im Sommer, oder im Frühling, auf dem Wasser oder der Wiese oder der Brücke, oder im Wald oder im Garten. […]
Der erste Band mit mehrstimmigen Liedern, die zwischen 1834 und 1837 entstanden waren, erschien im Jahr 1838 bei Breitkopf und Härtel als op. 41. Mendelssohn versah sie seiner Vorstellung gemäß mit dem Zusatz Im Freien zu singen. Das Opus teilt sich in zwei Gruppen: Nr. 1–4 sind strophisch angelegt und durch die alternierende Tonartenfolge (a-Moll, E-Dur, a-Moll, E-Dur) geeint, während sich die Binnenverse der Nummern 5 und 6 musikalisch kontrastierend abheben und die Tonarten der Stücke (B-Dur und C-Dur) nicht miteinander in Verbindung stehen. Im gesamten Opus bemüht Mendelssohn sich stilistisch um die für Volkslieder typische Natürlichkeit; die drei Heine-Vertonungen (Nr. 2–4) überschrieb er sogar gesondert mit Drei Volkslieder. Die Texte zelebrieren die Natur als farbenfrohen Baldachin, der das menschliche Dasein überdacht und zugleich jenseits alles Menschlichen existiert. So sind sich die zwitschernden Vögel in Nr. 1 (Im Walde) menschlicher Sorgen nicht bewusst („und lasst die Menschenseufzen, ach! in ihrem Vogelbauer“); in Nr. 4 (Auf ihrem Grab) wächst ein Lindenbaum über dem Grab zweier Liebender; in Nr. 5 (Mailied) bricht der Frühling im Mai aus, und im Lied Nr. 6 (Auf dem See) findet ein Reisender Nahrung und neues Blut in der „freien” Welt. Im letzten Lied vertont Mendelssohn das berühmte Gedicht des jungen Goethe, das er 1775 nach einem Besuch und einer Ruderpartie auf dem Züricher See schrieb. Mendelssohn gehörte zum engeren Freundeskreis Goethes und gab sich besondere Mühe mit der Vertonung: Er modifizierte die strophische Anlage, um neues musikalisches Material in einen Binnenvers einfließen zu lassen, in dem der Protagonist kurzzeitig goldenen Liebesträumen nachhängt, bevor die Musik der ersten Strophe wieder einsetzt.
1840 und 1843 folgten zwei weitere Bände mit Liedern für gemischten Chor (op. 48 und 59); beide wie op. 41 von Mendelssohns Generalverleger Breitkopf und Härtel in Leipzig veröffentlicht. Mendelssohn wählte die Reihenfolge der Stücke sorgfältig aus und begleitete die Drucklegung. Im Gegensatz dazu wurden die beiden 1851 und 1852 posthum als op. 88 und 100 veröffentlichten Bände vom Verlagshaus aus unterschiedlichen Handschriften aus Mendelssohns Nachlass zusammengestellt, sodass der Komponist selbst keinen Anteil daran hatte, die einzelnen Stücke zu einer zusammenhängenden Sammlung zu formen.
Uhland, Eichendorff, Goethe, Heine und Lenau nehmen mit sechs, fünf, drei, drei und zwei Vertonungen eine herausragende Stellung ein, was nicht überrascht, denn Mendelssohn hatte auch in seinen Sololiedern und Duetten ein Faible für die romantischen Texte dieser Dichter. Andere Dichter wie Platen, Hölty, Helminie von Chézy, Geibel und Fallersleben sind in den Liedern für gemischten Chor mit jeweils einem Text vertreten. In mindestens einem Fall – Im Wald, op. 100 Nr. 4 – das ursprünglich als Bestandteil von op. 48 vorgesehen war, war Mendelssohn zunächst nicht mit den Versen von Heinrich Weissmann zufrieden und änderte sie möglicherweise selbst ab, oder erlaubte ihre Abänderung. In einem Brief an Breitkopf & Härtel schrieb er am 30. Dezember 1839:
Die Worte davon gefallen mir zur Herausgabe nicht genug; könnten Sie hübsche, andre Worte darunter legen lessen (aber freilich müßte das Thema dasselbe bleiben, vom Wald und vom Grünen allein handeln, und wo möglich müßte jede Strophe anfangen ‚im Wald‘) so meine ich es könnte recht gut ein siebentes Lied abgeben, statt daß das erste Heft nur 6 hatte.
Mendelssohns Insistenz, dass der Wald und das Grüne im Zentrum des Liedes stehen sollten, deckt sich mit der Idee, dass die Musik im Freien erklingen sollte, quasi im Einklang mit der Natur. Und tatsächlich versuchte der Komponist wahrscheinlich mehr als einmal, seine Vision in die Tat umzusetzen, indem er seine Chorlieder im Wald aufführte. Ein Brief, den er am 3. Juli 1839 aus Frankfurt an seine Mutter schrieb, nachdem er einen Chor aus 20 Laiensängern tief im Wald in der Nähe der Stadt versammelt hatte, enthält eine beeindruckende Beschreibung:
Wie lieblich da der Gesang klang, wie die Sopranstimmen so hell in die Luft trillerten, und welcher Schmelz und Reiz über dem ganzen Tönen war, alles so still und heimlich und doch so hell – das hatte ich mir nicht vorgestellt. Es war ein Chor von etwa 20 guten Stimmen, aber bei einer Probe im Zimmer hatte manches gefehlt, und alles war unsicher gewesen, wie sie sich den Abend unter die Bäume stellten, und mein erste Lied ‚ihr Vöglein in den Zweigen schwank‘ [op. 41 Nr. 1] anhoben, da war es in der Waldstille bezaubernd, daß mir beinah die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es.
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