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Carl Loewes Passions-Oratorium

Das vergessene Meisterwerk

 

Carl Loewes Das Sühnopfer des neuen Bundes zählt zu den verborgenen Schätzen der Passionsmusik. Mit einer kammermusikalischen Besetzung bringt das Oratorium das Leiden und Sterben Jesu eindrucksvoll zum Klingen.

Der historische Kontext

Johann Carl Gottfried Loewe (1796–1869) wirkte über vier Jahrzehnte als Kantor an der Hauptkirche St. Jacobi in Stettin. Heute ist er vor allem als Komponist von Balladen bekannt. In seinen Oratorien verschmilzt der Balladenmeister mit dem Kirchenmusiker: Loewe komponierte mehrere Oratorien, die sich durch hohe musikalische Ausdruckskraft und eine prägnante Textvertonung auszeichnen.

Dies entsprach dem Zeitgeist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das Oratorium eine neue Blütezeit erlebte. Die sogenannte „Bach-Renaissance“, die mit Mendelssohns Wiederaufführung der Matthäus-Passion 1829 begann, führte dazu, dass sich viele Komponisten wieder verstärkt mit geistlicher Musik der Vergangenheit auseinandersetzten. Werke wie Mendelssohns Paulus oder Elias fanden große Verbreitung und beeinflussten das Schaffen vieler Komponisten. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass auch Carl Loewe mit insgesamt 18 Oratorien zur Wiederbelebung dieser musikalischen Gattung beitrug.

Sein vermutlich 1847 komponiertes Oratorium Das Sühnopfer des neuen Bundes fügt sich nahtlos in die kirchenmusikalischen Strömungen seiner Zeit ein. Es handelt sich um ein knapp zweistündiges Passionsoratorium für Solist*innen (Sopran, Alt, zwei Tenöre, zwei Bässe), doppelchörigen Chor (SSAATTBB) und Kammerorchester (zwei Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass und Pauken).

Struktur und musikalische Charakteristika

Das Libretto des Oratoriums stammt von Wilhelm Telschow und basiert auf den Evangelien der Lutherbibel, insbesondere auf dem Johannes-Evangelium. Es enthält sowohl direkte Bibelzitate als auch poetische Erweiterungen, die das Geschehen noch erlebbarer machen. Loewe legte besonderen Wert auf die Verständlichkeit des Textes.

Das Oratorium ist in drei große Teile gegliedert:

  • Erster Teil: Die Einleitung führt nach Bethanien zum Grab des Lazarus, wo das Wunder der Auferweckung geschieht. Es folgen die Salbung Jesu und die Einsetzung des heiligen Abendmahls in Jerusalem.
  • Zweiter Teil: Hier werden die Gefangennahme im Garten Gethsemane, der Prozess vor Kaiphas im hohenpriesterlichen Palast und die Verhandlung vor Pilatus geschildert.
  • Dritter Teil: Dieser Abschnitt beschreibt die Kreuztragung zur Schädelstätte, die Kreuzigung auf Golgatha und die Grablegung im Garten des Joseph zu Arimathia.

Carl Loewe vereint in diesem Oratorium – inspiriert von Bachs Passionen – verschiedene stilistische Elemente. Trotz der Orientierung an historischen Vorbildern hebt sich sein Werk durch die gelungene Verbindung traditioneller Einflüsse mit einer modernen Klangsprache ab.

Carl Loewe

Carl-Loewe-Denkmal
vor der Jacobikirche in Stettin
(1898 errichtet, 1942 zerstört)

Coverbild Loewe

Carl Loewe
Das Sühnopfer des neuen Bundes
Passions-Oratorium
Carus 23.002/50

Die Solopartien des Oratoriums sind so konzipiert, dass sie auch von geübten Laien gesungen werden können. Der Chor figuriert ähnlich wie bei Bach als Abbild der beteiligten Personengruppen. Die Choräle bieten dem Publikum sogar die Möglichkeit, aktiv in das Geschehen einzustimmen. Die bewusst schlicht gehaltene Instrumentierung verstärkt die emotionale Wirkung der dargestellten Figuren und Szenen. Die Melodien sind oft einfach, aber tief berührend. Besonders die Chorpassagen sind geschickt gestaltet: Sie treiben nicht nur die Handlung voran, sondern intensivieren auch die Emotionen der handelnden Figuren.

Ein weiteres hervorstechendes Merkmal des Oratoriums ist die Verwendung motivischer Verknüpfungen. So taucht etwa das „Abendmahlmotiv“ im ersten Teil mehrfach auf und weicht im weiteren Verlauf zugunsten der dramatischen Entwicklung , um der dramatischen Entwicklung mehr Raum zu geben. Der Wechsel zwischen Rezitativen, Arien, Ariosi und Chorpassagen sorgt für eine stilistische Vielfalt, die das Werk lebendig und spannend hält. Diese Mischung aus barocken, klassischen und romantischen Elementen gibt den dramatischen Szenen eine besonders eindringliche Tiefe.

Aufführungsgeschichte und Wiederentdeckung

Die Uraufführung von Das Sühnopfer des neuen Bundes wird für die Karfreitagsliturgie des Jahres 1848 in Stettin vermutet. Es gibt jedoch keine gesicherten Hinweise auf eine Aufführung zu Loewes Lebzeiten. 1894 tauchte der Klavierauszug auf und wurde vom renommierten Bach-Biografen Philipp Spitta untersucht. Um die Jahrhundertwende wurde das Oratorium dann recht erfolgreich. Heute ist das bewegende Oratorium selten zu hören.

Mit der Carus-Urtextausgabe wünschen wir dem Werk eine größere Beachtung. Besonders für Laienchöre und in der kammermusikalischen Instrumentierung bietet es eine wunderbare Gelegenheit, ein tiefgehendes und bewegendes Werk der Musikgeschichte wieder aufleben zu lassen.

Claudia Seidl (*1990) studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und historische Musikwissenschaft. Nach Tätigkeiten in der musikwissenschaftlichen Forschung und im Carus-Verlag arbeitet sie seit 2018 freiberuflich als Musikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf Lektorat und kritische Noteneditionen. Seit 2021 ist sie zudem Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Reger-Werkausgabe.

Weitere Passions-Oratorien (Empfehlungen)

Carl Heinrich Graun: Der Tod Jesu

Heinrich Schütz: Die Sieben Worte

Alessandro Scarlatti: Johannespassion

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