Sophie Scholl – Eine Heldenfigur unserer Kultur
Über das neue Kindermusical „Sophie!“
Das Kindermusical „Sophie! Eine Begegnung mit der jungen Sophie Scholl“ wurde von Bernard Lienhardt komponiert. Michael Sommer – auch bekannt aus „Sommers Weltliteratur to go“ – hat das Libretto beigesteuert. Michael Sommer über die inhaltliche Ausrichtung des Kindermusicals und dessen Botschaft zum 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin.
Okay, ich kapituliere. Ich habe ziemlich lang daran herumgepuzzelt, wie ich diesen Blogbeitrag starten soll, aber am Ende bin ich immer wieder bei DEM EREIGNIS angelangt und es tut mir leid, aber wir kommen nicht daran vorbei. Am 21.11.2020 sagt eine junge Frau auf einer „Querdenker“-Demo in Hannover: „Ja hallo, ich bin Jana aus Kassel und ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde. Ich bin 22 Jahre alt, genau wie Sophie Scholl, bevor sie den Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Ich kann und werde niemals aufgeben, mich für Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit einzusetzen.“ Das Ganze ist in einem YouTube-Video dokumentiert, man sieht, wie jetzt ein Ordner ins Bild kommt und ihr zu verstehen gibt, dass er diesen „Schwachsinn“ nicht unterstützt, daraufhin fängt sie an zu weinen und wirft ihr Mikro weg. Das Video hat sich viral verbreitet, es wurde überall darüber berichtet, man hat den Vergleich verurteilt, man hat sich über die junge Frau lustig gemacht, „Jana aus Kassel“ ist ein Symbol, fast schon eine Redewendung für die Vereinnahmung des Widerstands gegen das NS-Regimes durch Neurechte und Verschwörungstheoretiker geworden.
Der Autor
Michael Sommer ist freier Autor und Regisseur in München. Er schreibt Theaterstücke und betreibt den YouTube Kanal SOMMERS WELTLITERATUR TO GO.
Ich führe dieses Ereignis aus drei Gründen an: Erstens zeigt Janas Vergleich, dass Sophie Scholl eine zentrale Heldenfigur unserer Kultur ist, mit der man sich gern identifiziert. Zweitens zeigt sich, dass es der „Widerstand“ ist, der an ihr wahrgenommen wird, und nicht ihre inhaltlichen Motive, und drittens wird deutlich, wie wichtig es ist, dass wir uns immer wieder neu mit unseren Helden beschäftigen, damit keine solchen massiven Vereinnahmungen unserer Erinnerungskultur möglich sind.
Das Kindermusical „Sophie! Eine Begegnung mit der jungen Sophie Scholl“, komponiert von Bernard Lienhardt, zu dem ich das Libretto beigesteuert habe, ist eine solche Auseinandersetzung mit Sophie Scholl, und zwar erstens für Kinder und zweitens mit einem Kapitel aus Sophie Scholls Leben, das sonst wenig Beachtung erfährt. Es gibt mittlerweile viele Theaterstücke und Filme über die Weiße Rose und die Geschwister Scholl, aber die allermeisten drehen sich um die dramatischen Ereignisse im Januar und Februar 1943. Natürlich: Das geheime Drucken und Verteilen der Flugblätter, die Verhaftung und das Verhör durch die Gestapo, der Schauprozess und schließlich die Hinrichtung – das sind Stoffe für Hollywoodfilme. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag viele dieser Erzählungen sehr gern und halte sie für wichtig, weil sie die Tragweite der Haltungen von Hans, Sophie, Christoph und der anderen Widerstandskämpfer deutlich machen, die Konsequenz, mit der sie für ihre Ziele eingetreten sind. Aber gleichzeitig können sie einen Aspekt nur andeutungsweise verstehbar machen: Wie man zu einem solchen Menschen wird, der trotz Todesgefahr seinem Gewissen folgt.
Bilder der Uraufführung 2018
Als ich 2017 mit der Landesakademie für die musizierende Jugend in Ochsenhausen über ein Kindermusical zu Sophie Scholl ins Gespräch kam, war es schnell klar, dass wir uns nicht mit der jungen Erwachsenen und ihren „letzten Tagen“ beschäftigen wollten, sondern dem Mädchen Sophie begegnen wollten. Und so kommt es in unserer Geschichte dazu, dass Lea, ein Mädchen von heute, einen „Zusammenstoß“ mit der Vergangenheit hat und sich plötzlich im Jahr 1935 wiederfindet. Klar, eine „Zeitreise“ ist kein besonders realistischer Rahmen, aber es schadet sicher nicht, die Fantasie der Mitwirkenden und Zuschauer bei einem Musical zu bemühen.
In der Vergangenheit lernt Lea Sophie kennen, die sie durch ein Ulm führt, das so ganz anders ist, als sie es kennt. Da ist zunächst einmal Sophies Großfamilie – wir lernen zwar nur zwei Geschwister kennen, aber insgesamt sind es fünf! Die Mutter ist fürsorglich und warmherzig, als ehemalige Diakonisse auch sehr christlich geprägt; der Vater ist politisch engagiert, demokratisch-liberal (in der damaligen Zeit ein großes Risiko!); die ältere Schwester Inge als eingefleischte Anhängerin des Nationalsozialismus zu diesem Zeitpunkt mitten in der jugendlichen Rebellion gegen den Vater. Eine Gemeinschaft, in der Sophie aufgehoben, aber auch individuell frei ist, und in der es immer einen klaren moralischen (christlichen) Kompass gibt.
Dann die zweite Seite dieser Welt: Der „Bund Deutscher Mädel“. Sophie ist 1935, im Alter von 14 Jahren, Gruppenführerin bei den „Jungmädeln“ innerhalb der „Hitlerjugend“. Sie folgt damit ihrer Schwester Inge nach, allerdings interessiert sie sich mehr für das Naturerlebnis und die Gedichte und Lieder am Lagerfeuer als für den Drill und die „weltanschauliche Schulung“. Das führt natürlich zu Konflikten mit der pflichtbewussten Inge, aber – und hier fängt das Musical einen entscheidenden Augenblick ein – auch der ältere Bruder Hans, ebenfalls bisher sehr aktiv in der „Hitlerjugend“ hat gerade ein Erlebnis gehabt, das ihn vom Nationalsozialismus distanziert, nämlich seine Teilnahme am „Nürnberger Parteitag“. Und diese Wende weg von der jugendlichen Begeisterung für das Gruppenerlebnis in der HJ und das Nazi-System und hin zu einer Ablehnung von Militarismus, Hass, Fremdenfeindlichkeit und Unfreiheit – diesen Moment versucht das Musical für heutige Kinder in seinen Szenen und Liedern erlebbar zu machen.
Ich hoffe, dass unser Musical eines deutlich macht: Widerstand an sich ist sinnfrei. Na klar, es ist immer das Bedürfnis einer jungen Generation zu rebellieren, dagegen zu sein, Widerstand zu leisten. Im Fall der pubertierenden Geschwister Scholl war das der Protest gegen ihren demokratischen Vater, und sie protestierten, indem sie sich mit glühendem Eifer in der „Hitlerjugend“ engagierten. Diesen inhaltlichen Irrtum zu erkennen und sich innerlich von den Lügen und Hassbotschaften der Nazis zu lösen, war ihr erstes großes Verdienst. Auf Grund ihrer christlichen Erziehung, die sie Nächstenliebe, Solidarität und Friedfertigkeit gelehrt hatte, erkannten sie, wie grundlegend falsch der Faschismus war. Ihr zweites großes Verdienst war dann die Konsequenz, mit der sie diese Überzeugung lebten.
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