Zeit des Aufbruchs

Michael Praetorius und Heinrich Schütz als Väter der protestantischen Kirchenmusik

Dresden 1614. Am sächsischen Hof treffen zwei der zentralen deutschen Komponistenpersönlichkeiten des frühen 17. Jahrhunderts aufeinander: der 43-jahrige Wolfenbüttler Hofkapellmeister Michael Praetorius – 1613 nach der Beisetzung Herzogs Heinrich Julius von Wolfenbüttel als Interimskapellmeister nach Dresden ausgeliehen (zunächst für das Trauerjahr, tatsachlich aber bis 1616) – und der 14 Jahre jüngere Heinrich Schütz – ab Herbst 1614 als Organist vom Kassler Hof ebenfalls ausgeliehen (aber nie in Kassler Dienste zurückgekehrt, sondern ab 1619 Hofkapellmeister in Dresden). Heinrich Schütz war kurz zuvor aus Venedig wiedergekehrt, wo er drei Jahre lang bei Giovanni Gabrieli gelernt hatte und die tiefgreifende Umwälzung in der italienischen Musik um 1600 hautnah miterleben konnte. Vielleicht hat er Michael Praetorius davon berichtet? Die intensive Italienrezeption von Praetorius jedenfalls scheint in dessen Dresdner Zeit begonnen zu haben. Und mit erstaunlicher Leidenschaft studierte Praetorius nun alles, was er an italienischer Musik „zu fassen“ bekam. Im dritten Teil seiner Schrift Syntagma musicum von 1619 werden die Werke von rund 120 (!) italienischen Komponisten und Musiktheoretikern seiner Zeit erwähnt und deren Werke auf der Basis tiefer Kenntnis der Musik – oft zur Veranschaulichung kompositorischer Details – beschrieben.

Als 1617 in Dresden die 100-jährige Wiederkehr des Wittenberger Thesenanschlags drei Tage lang mit viel Musik gefeiert wurde, hatte Schütz de facto bereits die Leitung der Hofkapelle von dem altersschwachen Rogier Michael übernommen; Praetorius steuerte als „Kapellmeister von Haus aus“ wohl ebenfalls Werke bei. Etliche Kompositionen kann man anhand der gedruckten Beschreibung der Festlichkeiten von 1617 mit hoher Wahrscheinlichkeit identifizieren (s. rechts).

Mit Schütz und Praetorius tritt die protestantische Kirchenmusik aus dem Schatten der katholischen. Während das 16. Jahrhundert noch vor allem (wenn auch nicht nur) von der Rezeption katholischer Musik geprägt ist, finden Schütz und Praetorius auf jeweils ganz unterschiedliche Art und Weise zu einer eigenen protestantischen Kirchenmusik auf der Höhe ihrer Zeit.

Dr. Uwe Wolf ist als Musikwissenschaftler vor allem im 17. und 18. Jahrhundert zuhause. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von der Zeit Monteverdis und Schütz über Bach und die Generation der Bach-Söhne und -Schüler bis hin zur Wiener Klassik. Seit Oktober 2011 leitet er das Lektorat des Carus-Verlags. Zuvor war er über 20 Jahre in der Bach-Forschung tätig.

Kompositionen aus den Psalmen Davids 1619 von Heinrich Schütz, die vermutlich für die Dresdner Reformationsfeierlichkeiten von 1617 entstanden sind:

  • Singet dem Herrn ein neues Lied SWV 35  (Carus 20.035)
  • Nun lob, mein Seel, den Herren SWV 41  (Carus 20.041)
  • Nicht uns, Herr, sondern deinen Namen SWV 43  (Carus 20.043)
  • Danket dem Herren, denn er ist freundlich SWV 45  (Carus 20.045)
  • Jauchzet dem Herren, alle Welt SWV 47 (Carus 20.047)
  • Eingespielt auf der CD Psalmen Davids (Schütz-Gesamteinspielung, Vol. 8, 2 SACDs) Dresdner Kammerchor, Dresdner Barockorchester, Hans-Christoph Rademann (Carus 83.255)

Schütz: Psalmen Davids

Singet dem Herrn ein neues Lied (Psalm 98)

Nachdem Schütz nach dem Tode Gabrielis von seinem Aufenthalt in Venedig in seine Heimat zurückkehrte, begann er die erworbenen Eindrücke musikalisch zu verarbeiten. Vor allem das mehrchörige Musizieren war hierbei sehr wichtig, wofür die zwischen 1615 und 1619 entstandenen Psalmen Davids ein Beleg sind.

Nun lob, mein Seel, den Herrn

Kanzone

Danket dem Herrn, denn er ist freundlich

Mit der klangprächtigen Vertonung des 136. Psalms aus den Psalmen Davids von 1619 betritt Heinrich Schütz Neuland: Er holt das höfische Trompetenensemble in die Kunstmusik (ähnlich wie zur selben Zeit auch Michael Praetorius).

Jauchzet dem Herren, alle Welt

CD Schütz: Psalmen Davids

In der Schütz-Gesamteinspielung erscheint mit den Psalmen Davids einer der Höhepunkte sowohl im Schaffen des Komponisten als auch innerhalb der Edition: Klangprächtige, oft mehrchörige Musik, eingefangen in atemberaubenden Surround-Sound und eine luxuriöse Besetzung sind nur einige wenige Punkte, die die Aufnahme zu einem wahren Schütz-Fest werden lassen.

Schütz: Opera varia I.

Band 19 der Schütz-Gesamtausgabe vereinigt 21 sehr unterschiedliche Kompositionen aus verschiedenen Schaffensphasen. Das Spektrum reicht vom kleinen zweistimmigen Geistlichen Konzert bis zur sechsteilig-zyklischen Psalmvertonung und dem großangelegten mehrchörigen Concerto, von bekannten Werken wie dem „Osterdialog“ bis zu vollständig unbekannten, von der affektvoll-madrigalischen Komposition bis zum schlichten Choralsatz.

Bei Heinrich Schütz steht vor allem das deutsche Bibelwort im Vordergrund: Fast allen erhaltenen Werken von Schütz liegen deutsche Bibeltexte zugrunde. Und Schütz ist ein Meister des deutschen Wortes. Er erfindet den italienischen Stil mit deutschen Worten neu. Seine Psalmen Davids von 1619 (einige davon sind für das Reformationsjubiläum 1617 geschaffen worden) verschmelzen die italienische Mehrchörigkeit und einen – 1619 noch zurückhaltenden – konzertierenden Stil ganz mit den Erfordernissen der deutschen Sprache und legen damit Grundlagen für die Bibeltextvertonungen, ja Vertonungen der deutschen Sprache insgesamt, nicht nur des 17. Jahrhunderts.

Heinrich Schütz – Meister des deutschen Wortes

Der Pfarrerssohn Michael Praetorius hingegen ist mehr noch als Schütz von der speziell lutherischen Tradition geprägt; Praetorius‘ Vater war zunächst als Lehrer Kollege Johann Walters an der Lateinschule in Torgau, ehe er nach seinem Theologiestudium in Wittenberg (noch bei Luther und Melanchthon) Pfarrer wurde. Praetorius‘ Augenmerk galt von jeher dem protestantischen Choral, der im Werk von Schutz keine herausragende Rolle spielt. Auch im von Italien beeinflussten Spätwerk von Michael Praetorius – beginnend mit seiner Bekanntschaft mit Heinrich Schütz in seiner Dresdner Zeit – blieb Praetorius dem Choral treu. In faszinierender Weise verbinden sich Elemente des neuen Stils – Ritornelle, Basso continuo, konzertierende Stimmen, rezitativische Deklamation – in seinen späten Choralbearbeitungen mit dem protestantischen Choral.

Michael Praetorius – geprägt durch lutherische Tradition

Über die italienischen Vorbilder noch hinaus geht seine Instrumentalbehandlung: So idiomatisch und doch so geschickt dem Text untergeordnet schrieb damals sonst niemand für Instrumente! Schütz und Praetorius legen mit ihrer Aneignung – im besten Sinne des Wortes – des neuen italienischen Stils die Grundsteine für die Entwicklung der protestantischen Kirchenmusik des 17. und 18. Jahrhunderts bis hin zu Bach und noch über ihn hinaus.

Zum Reinhören:

Michael Praetorius
Gloria sei dir gesungen
Choralkonzerte nach Liedern von Luther, Nicolai und anderen
Eingespielt durch die Ensembles Gli Scarlattisti und Capella Principale unter der Leitung von Jochen Arnold
Carus 83.482

Michael Praetorius

Halleluja. Christ ist entstanden

Die Sammlung „Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica“ (Polyhymnia [die Muse der Hymnendichtung] als Unterhändlerin und Festrednerin) von 1619 gilt zu Recht als Höhepunkt im Schaffen des Michael Praetorius. In diesen Choralkonzerten treffen der hochmoderne, italienische Stil und der protestantische Choral zusammen und gehen eine für die deutsche Musikgeschichte wegweisende Symbiose ein.

Wie schön leuchtet der Morgenstern

Die Sammlung „Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica“ (Polyhymnia [die Muse der Hymnendichtung] als Unterhändlerin und Festrednerin) von 1619 gilt zu Recht als Höhepunkt im Schaffen des Michael Praetorius. Sie vereinigt „Solennische Friedt- und Frewden-Concert:“, die Praetorius als reisender Musiker überwiegend für festliche Anlässe – er schreibt von „Kayser: König: Chur: vnd Fürstlichen zusammen Kunfften“ – und auch sonst für „fürnehme Capellen vnd Kirchen“ komponiert hatte.

Allein Gott in der Höh sei Ehr

Ein „Klassiker“ im Carus-Programm: Saint-Saëns‘ Oratorio de Noël für fünf Vokalsoli, gemischten Chor, Streicher, Orgel und Harfe aus dem Jahr 1860. Die aparte, kammermusikalische Instrumentierung, die lyrisch gehaltenen solistischen Partien der schlicht geführte Chor verbinden sich zu einer pastoralen Grundstimmung und lassen dieses Weihnachtsoratorium zu einem der meist aufgeführten Werke des Komponisten werden.

CD: Michael Praetorius: Gloria sei Gott gesungen

Michael Praetorius zählt zweifelsohne zu einem der wegweisenden Komponisten des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Seine Synthese einfacher, volksnaher Choräle mit der üppigen Ästhetik des neuen italienischen Stils macht ihn zu einem der vielschichtigsten und innovativsten Musiker seiner Zeit.

2 Kommentare
  1. Roger Rayner
    Roger Rayner sagte:

    Freut mich sehr, diese Abhandlung über Schütz und Michael Praetorius und von der Zusammenhang zwischen Praetorius und den protestantischen Choral und Schütz mit der Italienischen Musik zu lesen. Ich spiele mit großer Freude die Orgelwerke von M. Praetorius; nur zehn Werke insgesamt, doch so unterschiedlich! Alle Zuhörer werden von „O Lux Beata Trinitas,“ und „Nun lob, mein‘ Seel‘, den Herren“ auf einmal überzeugt.

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