Mit den Ohren sehen
Hans-Christoph Rademann über seine Gesamteinspielung der Werke von Heinrich Schütz
Schütz komplett – in 20 Folgen auf insgesamt 28 Tonträgern hat Carus das gesamte Œuvre von Heinrich Schütz auf CD veröffentlicht. Dieses Jahr ist die Gesamtbox der vielfach ausgezeichneten, in dieser Form bislang einmaligen Schütz-Gesamteinspielung des Dresdner Kammerchors erschienen. Spiritus Rector des Projekts ist der Gründer und Leiter des Dresdner Kammerchors, Hans-Christoph Rademann.
Welche Idee steckt hinter dieser Gesamteinspielung, die ja weit mehr als eine archivarische Dokumentation ist?
Ich bin in der Tradition des Dresdner Kreuzchores groß geworden, Martin Flämig war mein Chorleiter. Und seine Auffassung von Heinrich Schütz spricht mir total aus dem Herzen: Er war der Überzeugung, dass diese Musik untrennbar mit dem Wort verbunden ist. Schütz fügt dem Text also eine quasi unsagbare Dimension hinzu, die weit über das hinaus geht, was Worte ausdrücken können. Die Gesamtaufnahme zeigt, wie vielschichtig ihm dies gelungen ist.
Was ist das für ein Gefühl, die 20. Folge in den Händen zu halten?
Ein sehr schönes. Ich überlege zwar schon wieder, was ich als nächstes tun möchte, aber man hält es mit dem Gefühl, das so erfolgreich beendet zu haben, auch eine Weile aus. Es ist erfüllend und macht mich glücklich, dass ich diese Klänge nun derart verinnerlicht und dadurch stets präsent habe. Und ich hoffe, dass sich durch dieses Projekt die Menschen auch zunehmend für Schütz interessieren.
Hans-Christoph Rademann zählt zu den gefragtesten Chordirigenten und anerkanntesten Chorklangspezialisten weltweit. Unter seiner musikalischen Gesamtleitung verwirklicht der Dresdner Kammerchor gemeinsam mit dem Carus-Verlag Stuttgart die erste Heinrich-Schütz-Gesamteinspielung.
Erinnern Sie sich noch, welche Gedanken Ihnen am Anfang dieses Projekts durch den Kopf gingen?
Ich hatte großen Respekt vor dem Ganzen. Trotzdem begann ich seinerzeit mit dem schwersten Werk überhaupt: Opus 1, die Italienischen Madrigale. Hier wollte ich beweisen, dass man das auch mit einer kleinen Besetzung hinkriegt, und damit möglichst vielen Chorleitern Mut machen, daraus selbst mal einige Stücke zu probieren. Als Zukunftsprojekt schwebt mir vor, diesen Beweis noch einmal nur mit den Solisten anzutreten. Das kommt irgendwann als Nachtrag.
Was gab es bei der Arbeit mit Schütz Neues zu entdecken?
Zum einen ist für mich der Aspekt der musikalischen Lesung sehr in den Vordergrund gerückt. Schütz agiert ja immer als Ausleuchter des Wortes – wie jemand, der einem eine Laterne über den Text hält. Er verharrt bei Stellen, die ihm persönlich wichtig sind, lange über dem Text und hat häufig Wiederholungen komponiert. Wenn man sich mit Schütz befasst und seine Musik kennt, dann lernt man, mit den Ohren zu sehen.
Heinrich Schütz: Die Gesamteinspielung (Gesamtbox mit 28 CDs)
Carus 83.048
Was bedeutet „Mit den Ohren zu sehen“?
Ein Bild ist ja eine visuelle Sinneserfahrung. Wenn er aber nun bestimmte Worte vertont, dann entsteht ein musikalisches Bild. Zum Beispiel der Splitter, den man im Auge seines Nächsten sieht: Das sind maximal eine Achtel- und zwei Sechzehntelnoten – der Balken, den man im eigenen Auge nicht bemerkt, erklingt als großer, langer Aufstieg über eine Oktave und wird dann als Ton über drei Takte lang gehalten. Soll der große Balken also den Blick auf den kleinen Splitter verdecken, sodass der Hörer buchstäblich ein Brett vor dem Kopf hat? Tatsächlich „sieht“ man den Splitter nicht mehr. Oder nehmen Sie die Motette Ich bin ein rechter Weinstock: Hier zaubert Schütz an einer Stelle tatsächlich ein Weinberg-Plateau in die Partitur hinein. Das kann man sogar optisch nachvollziehen, denn wenn man die auskomponierten Girlanden hört und die Partitur um 90 Grad dreht, sieht man Trauben hängen! Ich kann mich oft kaum retten vor den vielen Eindrücken, die diese Musik uns schenkt. Wer Schütz hört, begreift, was Musik ist, ihre Bedeutung und Aussage.
Heinrich Schütz: Die Gesamteinspielung (Box I, Vol. 1-8)
Carus 83.041
Wie haben Sie es geschafft, nicht die Energie für ein so großes und langes Projekt zu verlieren?
Wir haben sorgfältig produziert und große Pausen zwischen den Aufnahmen gehabt, um die jeweiligen Programme dann auch in Konzerten zu präsentieren. Ich hatte mein Schütz-Team über die ganze Zeit stabil, also im Wesentlichen die gleichen Solisten, Choristen und Musiker; außerdem haben wir fast immer in der gleichen Kirche aufgenommen. Aber die Werke unterscheiden sich sehr: Bei den Passionen darf man keine Angst vor langen Passagen haben, bei den Psalmen Davids erklingen eher einfache Strukturen, weil die Klangballungen mit bis zu vier Chören einfach zu groß sind. Und in der Auferstehungs-Historie gibt es Tendenzen zur oratorischen Form. Allein schon die Vielseitigkeit des Komponisten verhindert ja bereits, dass alles irgendwie gleich klingt.
Gibt es ein bestimmtes Stück, das Sie persönlich besonders berührt?
Natürlich gibt es da mehrere. Aber sehr mitreißend finde ich aus der Geistlichen Chormusic das Stück Aus dem Gebirge hat man ihr Geschrei gehört. Denn wenn es um Kinder geht, dann spürt man bei Schütz immer ein ganz tiefes Gefühl, dann habe ich den Eindruck, leibhaftig die Person vor mir zu haben; hier offenbart er sich als ganz kinderlieber Menschenfreund. Und in Mit dem Amphion zwar thematisiert er die Trauer über den Tod seiner Frau, musiziert nur von Tenor und Continuo: Das geht über 15 Minuten, und da ist alles drin, die ganzen Augenblicke der Partnerschaft, der Verlust und die Hoffnung, dass man sich vielleicht irgendwann wiedersieht. Hier kommt man an Schütz ganz nah ran.
(Interview: Jan-Geert Wolff)
Heinrich Schütz: Die Gesamteinspielung (Box II, Vol. 9-14)
Carus 83.042
Heinrich Schütz: Die Gesamteinspielung (Box III, Vol. 15-20)
Carus 83.043
Ich habe jetzt beide Gesamtausgaben von Heinrich Schütz, sowohl die große Gesamtbox mit 28 CD, als auch die 3 kleineren Boxen. Ich bevorzuge ganz klar die 3 kleineren Boxen, schon alleine der Informationen wegen. Außerdem gefällt mir in der letzten der kleineren Boxen die Schütz-Konkordanz – sehr informativ !!!
Mein persönliches Dankeschön gilt Herrn Rademann mit dem Dresdner Kammerchor und auch dem Carus Verlag, der dieses einzigartige und großes Projekt möglich gemacht haben.
Gruß aus Berlin, HVoege67
Herzlichen Dank!