Der Welt abhanden gekommen
Eine Hommage auf Clytus Gottwald. Von Frieder Bernius
Was für ein Werk! Was für ein Leben! Kein kompromissbereites, eher ein selbstkritisches als ein ehrgeiziges, immer jedoch mit dem nötigen Selbstbewusstsein.
Wie das gekommen ist? Im Gegensatz zu seiner Generation und der meiner Eltern haben wir den Zivilisationsbruch um 1945 nicht erleben müssen. Kann es dieser gewesen sein, der Clytus Gottwald unfähig gemacht hat zu Kompromissen, ihn überzeugt hat vom „Fortschritt des musikalischen Materials“, was ihn mitunter spöttisch auf neotonale Kompositionen zu Beginn der 80er Jahre blicken ließ und ihn zur Erleuchtung gebracht hat, seinen Platz nicht mehr bei den „Kreativen“, sondern eher bei deren „Ermöglichern“ zu suchen? Das hat jedenfalls Thomas Kabisch eindrücklich auf der Trauerfeier für ihn am 30. Januar geschildert, ebenso wie uns Manfred Schreier in der Carus-Festschrift zum 80. Geburtstag Gottwalds (Carus 24.049) sympathisch berichtet hat, wie rigoros dieser gegenüber Stilkopien („Wozu?“) eingestellt war.
Sind Ermöglicher aber lediglich dienende Hilfskräfte? Gewiss wird uns Clytus Gottwald so nicht in Erinnerung bleiben. Gerade wenn das kompositorische Material Grenzen hatte überschreiten sollen, die bisher nicht für möglich gehalten wurden, ist es unausweichlich, dass denjenigen, die es hervorgebracht haben, Fragen gestellt werden müssen, „Fragen, die dazu bestimmt sind, jedes Mal auf eine unerwartete Weise gelöst zu werden“, so formulierte es Pierre Boulez ebenfalls in der Festschrift zum 80. Geburtstag. Unvergesslich, wie sich Gottwald einmal selbst, in einer Ansprache, über seine Funktion des dienenden „Chorleiters“ in der Zusammenarbeit mit Boulez, einem seiner besten Freunde, amüsiert hat. Boulez und Ligeti seien ihm vorausgegangen, schreibt er im Vorwort einer seiner Bearbeitungen. Nun hat er sie eingeholt.
Alma und Gustav Mahler. Transkriptionen für Chor a cappella
Clytus Gottwald
SWR Vocalensemble Stuttgart,
Marcus Creed
Carus 83.370
Was müssen das für Erfahrungen gewesen sein, die Gottwald als Assistent von Marcel Couraud und seinem Pariser Ensemble in den 50er Jahren gemacht haben wird, in den immer noch rauchenden Trümmern der „Erzfeindschaft“? Jedenfalls solche, die ihn zum ersten Mal mit der Behandlung von Stimmen ohne eine instrumentale Unterstützung, als gleichberechtigte und gleichfähige Pendants zu instrumentaler Kompetenz konfrontiert haben – wie in Messiaens Cinq rechants, für Courauds Ensemble Ende der 40er Jahre geschrieben. Das muss die Keimzelle seiner Vision von der Erweiterung stimmlicher Begrenzungen über das Gesangliche hinaus gewesen sein, die er mit seiner „Schola Cantorum“ ab den 60er Jahren und zusammen mit den wichtigsten Komponisten dieser Zeit geteilt hat, mit Lachenmann, Boulez, Schnebel, Holliger, Ligeti. Was hat ihn danach veranlasst, sich auf Bearbeitungen von Instrumentalwerken und Klavierliedern für Stimmen zu konzentrieren? In seinem Beitrag für ein Jahresprogramm des SWR-Vokalensembles nach der Jahrhundertwende fragt er nach einer Weiterentwicklung der Chormusik, nachdem „in den 60er Jahren die technologischen Möglichkeiten des Instruments Chor ausgeschöpft waren“, wie er schreibt. Und fordert: „…vielmehr bestünde ein entschiedener Schritt in die Zukunft darin, die Innovationen von damals in ein Neues zu transformieren. Eine der wichtigsten Innovationen war sicher die Differenzierung, das Konzept, Chor nicht mehr als Masse zu behandeln, sondern kammermusikalisch zu durchdringen… Der Chorklang, ein Kollektives, konstituierte sich dann nicht mehr durch die Unterdrückung der Subjekte, sondern durch die befreite Leistung des einzelnen hindurch…“. War das der Urknall für seine Bearbeitungen?
In dieser Zeit muss ihn gerade auch die Mikrotonalität György Ligetis fasziniert haben. Und da in dessen zwischen 1963 und 1966 entstandenem Requiem die zur „Missa pro defunctis“ gehörige „Communio“, das „Lux aeterna“ fehlt, hat Gottwald ihn um eine Komposition dieses Textes für 16 Stimmen a cappella gebeten. Damit beginnt ein neuer Abschnitt an Kompositionen für diese Besetzung. Für Gottwald war die 16-Stimmigkeit eine nötige Erweiterung von Messiaens 12-Stimmigkeit, in der Überzeugung, damit imstande zu sein, die Grenze zwischen solistischer Befähigung und Ensemblekompetenz fließend werden zu lassen. Ligetis Requiem beschränkt sich, im Gegensatz zu seinen gleichzeitig entstandenen Aventures, kompositorisch auf einen reinen gesanglichen Stimmausdruck (Peter Rummenhöller hat das einmal als „neuromantisch“ bezeichnet) mit Ganz- und Halbtonclustern. Eine Beschränkung? Einerseits ja, zum andern aber eine Intonationsgenauigkeit von Stimmen erwartend, die in dieser Weise zuvor nur von Instrumenten geleistet werden konnte. Hut ab vor der ersten Aufnahme dieses Werkes mit der Schola bei WERGO, nur wenige Jahre nach der Uraufführung.
Dieses Werk und damit das Vorbild von Gottwald und seiner Schola haben mich ein Leben lang begleitet. Mit vielen ihrer Mitglieder war ich auch persönlich bekannt und in direktem Kontakt, zum Beispiel mit dem tiefsten Bass der Schola, meinem Gesangslehrer August Meßthaler, der mich eine Gesangstechnik gelehrt hat, auf die ich heute noch zurückgreifen kann. Für mich kam Lux aeterna nach barocker und singbewegter musikalischer Erziehung wie ein Blitzeinschlag daher, ich versuchte mich zum ersten Mal daran vier Jahre nach der Uraufführung und brauchte bis zu einer eigenen Aufnahme Ende der 90er Jahre, bis ich es beherrscht habe. Denn dieses Werk hat mich gelehrt, wie eine dem Instrumentalen ebenbürtige a cappella-Aufführung, aber nicht nur dieses Werks, zu erreichen sei. Vergessen wir nie, dass noch in den 1920er Jahren Schönberg eine colla-parte-Begleitung durch Bläser seines a cappella-Werks Friede auf Erden glaubte hinzufügen zu müssen, weil ein Singen ohne „Bewachung“ von Instrumenten nicht möglich sei, genauso wenig wie ein Frieden ohne „Bewaffnung“, wie er damals, kurz nach dem ersten Weltkrieg schrieb… Zum einen ist ein dynamischer Ausgleich offener und geschlossener Vokale unabdingbar (ein „Lux“ wird grundsätzlich leiser klingen als ein „aeterna“). Und zum andern mit einem gesangstechnischen Ausgleich durch eine gute, sogenannte „in die Maske“ gesungene Gesangstechnik, um die geforderte Halbtonintonation exakt erreichen zu können. Wie oft bin ich in den Takten 5 und 6 oder 42 und 43 daran gescheitert…
Gottwald schreibt selbst in einem Booklet: „1978, während Boulez Ravels Orchesterlied Soupir probte, ging mir blitzartig die Möglichkeit einer chorischen Transkription auf, die ich dann wenig später realisierte. Dies fiel mir deshalb leichter, weil ich 13 Jahre zuvor bei der Aufführung von Ligetis Lux aeterna eine völlig neue Chortechnik kennengelernt hatte: die Technik, Klangflächen zu komponieren“. Mit der Übertragung von Ravels Orchesterlied auf die 16 Stimmen der Schola und ebenso kurz danach mit Mahlers Ich bin der Welt abhanden gekommen begann ein neues Kapitel in Gottwalds Schaffen, dem über 120 Bearbeitungen gefolgt sind, mit denen er das Chorrepertoire entscheidend bereichert hat und die er zuerst bei der Universal Edition in Wien, später beim Carus-Verlag erschienen sind. Eine meisterhafte Beherrschung des polyphonen Stimmensatzes, die jedenfalls an die der oben erwähnten „Kreativen“ heranreicht und jeder Sängerin und jedem Sänger die von Gottwald erhoffte „befreite Leistung“ ermöglichen kann!
Frieder Bernius zielt bei seiner Arbeit als weltweit gefragter Dirigent auf einen am Originalklangideal orientierten und zugleich unverwechselbar persönlichen Ton, egal ob bei den Vokalwerken von Monteverdi, Bach, Händel, Beethoven, Schütz oder Ligeti, den Schauspielmusiken von Mendelssohn oder den Sinfonien von Haydn und Schubert. Bernius leitete nicht nur die Gesamteinspielung der geistlichen Vokalmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy und viele weitere Einspielungen verschiedenster Komponist*innen, sondern ist auch Herausgeber von Noteneditionen des Carus-Verlags, nicht zuletzt von Mozarts Missa in c KV 427.
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