Wie ein Krimi
Ein Werk, von dem eigentlich kein Ton erhalten ist
Auf die Frage nach ihrem Lieblingskomponisten oder gar Lieblingsstück könnte Ute Kelemen die unterschiedlichsten Antworten geben. Wenn sie sich aber tatsächlich einen Komponisten für den Aufenthalt auf einer einsamen Insel wünschen dürfte, dann wäre es Bach. Ein einziger Choral von ihm birgt so viel Trost und Hoffnung, dass sie eine Weile überleben könnte.
Die Entdeckung des Jahres war für mich seine Markus-Passion. Das hat einen recht unschönen Grund: Corona. Wir Dresdner Philharmoniker saßen ab dem 13. März brav zuhause, alle Konzerte waren abgesagt. Besonders in der Karwoche wurde mir bewusst, dass sie ohne Musik, ohne Passion, nicht dieselbe ist. Seit ich als 10-Jährige im Chor meines Vaters meine erste Johannes-Passion erlebte, gab es kaum ein Jahr, in dem ich weder die Matthäus- noch die Johannes-Passion gesungen, gespielt oder zumindest gehört habe.
Um die Lücke zu füllen, fing ich an zu suchen. Ich wollte etwas Neues finden und musste zu meiner Überraschung erkennen, dass mir die Markus-Passion noch nie untergekommen war. Meine Recherche dazu wurde schnell hochinteressant: Uraufführung 1731 in Leipzig wenige Jahre nach der Matthäus-Passion, Picanders Libretto komplett erhalten, autographe Partitur verschollen. Eine Abschrift des Bach-Sammlers Franz Hauser (1794–1870) enthielt möglicherweise Teile der Markus-Passion, ist jedoch – ohne je ausgewertet worden zu sein – 1945 am Ende des Krieges verbrannt.
Die Geschichte der Markus-Passion liest sich wie ein Krimi. Wie rekonstruiert man ein Werk, von dem eigentlich kein Ton erhalten ist? Wilhelm Rust (1822–1892, Herausgeber der alten Bach-Gesamtausgabe) erkannte 1873, dass fünf Sätze der Markus-Passion wahrscheinlich Bachs Trauerode entlehnt wurden und Friedrich Smend (1893–1980) konnte in den 1940er Jahren die Parodievorlage für eine weitere Arie sowie einige der Choralsätze ausfindig machen. Auf dieser Basis schlug Diethard Hellmann (1928–1999) in einer 1964 veröffentlichen Edition zwei Aufführungsvarianten vor: Entweder schrumpft man alles auf eine zweiteilige Passionskantate zusammen und musiziert nur, was herzuleiten ist – verkürzt also den erhaltenen Text auf geschätzt ein Viertel. Oder man hält sich an den Picander-Text, lässt erklingen, was rekonstruierbar ist und der Rest (alle Rezitative, außerdem die Turba-Chöre und eine Arie) wird gesprochen. Gesprochen? Bekam ich einen spannenden Theaterabend mit Musik in Aussicht gestellt?
Doch das war noch nicht das letzte Wort. In einer lange in ihrer Bedeutung unterschätzten Choralsammlung des Bach-Schülers Ludwig Dietel (1713–1773), geschrieben um 1735, stehen nicht nur einige der fehlenden Choralsätze aus der Markus-Passion, sondern sie stehen dort genau in derselben Reihenfolge wie in Picanders Libretto. Die Vorstellung, dass Dietel diese direkt aus dem damals noch vorhandenen Partiturautograph der Markus-Passion hat abschreiben können, ist also nicht abwegig. Dietels Abschriften sind im Grunde die einzige wirklich verlässliche Quelle der Markus-Passion. Bis heute zumindest – wer weiß, ob nicht irgendwann noch eine Handschrift auftaucht. Mit nunmehr allen Choralsätzen hat Andreas Glöckner im Jahr 2000 Hellmanns Rekonstruktion bei Carus neu herausgegeben.
Soviel zur Geschichte der Passion. Der Theaterabend hat gehalten, was er versprochen hatte (CD mit amarcord aus der Frauenkirche Dresden – Carus 83.244). Mir stockte der Atem, als ich die ersten Rezitative und Chöre gesprochen hörte. Was für ein Unterschied! Man achtete plötzlich viel mehr auf die Geschichte. Das Markus-Evangelium ist dem von Matthäus sehr ähnlich, aber hin und wieder, wenn man sich schon in sicheren Bahnen fühlt, kommt es doch anders. Und wenn dann der nächste Choral erklingt, dann ist es, als hätte man noch nie zuvor Musik gehört. So pur und unschuldig. Als würde man nach einer Fastenwoche zum ersten Mal wieder essen.
Natürlich kam ich nicht umhin, bei fast allen Rezitativen und Chören die Musik der Matthäus-Passion mitzuhören. Das wird anderen genauso ergehen. Trotz vieler Parallelen, das Markus-Evangelium stellt die menschliche Seite Jesu stärker in den Vordergrund. Jesus hat Gefühle, wird zornig und traurig, hat Hunger, ist müde, herzt Kinder und zittert vor Todesangst. Mein persönliches Highlight war die Sopran-Geigen-Arie „Welt und Himmel, nehmt zu Ohren, Jesus schreiet überlaut“. Sie folgt dem Rezitativ, in dem Jesus stirbt. Ich habe angefangen, sie zu üben und bei einigen unserer ersten kleinen 1:1 Konzerte nach dem Lockdown zu Gehör gebracht. Die Arie in G-Dur im 6/8-Takt ist virtuos, heiter und versöhnlich, als wäre nichts gewesen.
Noch ein interessantes Detail fiel mir auf: In der Matthäus-Passion gibt es eine einzige Stelle, an der der Chor unisono singt: „Ich bin Gottes Sohn“. In der Markus-Passion geschieht das im Schlusschor: „Mein Leben kömmt aus deinem Tod, hier hab ich meine Sünden not“. Diese „Grabschrift“ erklingt insgesamt viermal, wirkt somit fast wie ein Mantra. Wie schon in der Trauerode wird durch das Unisono eine Quintessenz, das was bleibt, epigrammatisch in Szene gesetzt.
In der Folge von Hellmanns Edition gab es freilich bald die ersten Vervollständigungsversuche mit Neukompositionen der Rezitative und Turba-Chöre. Allen ist eins gemeinsam: es klingt nicht wirklich nach Bach. Ich kann nachvollziehen, dass man ein aufführbares Gesamtwerk schaffen möchte und die „richtige“ Markus-Passion bleibt eine Utopie, aber auf den Zauber der Glöckner-Lösung, den Mangel akzeptierend, würde ich nicht verzichten wollen. Einen interessanten Ansatz hat kürzlich der Berliner Kirchenmusiker Peter Uehling bei Carus vorgelegt. Er schrieb zu dem gesprochenen Evangelienbericht eine dezente, den Textinhalt stützende Klanguntermalung für Gambe und Cello. Der musikalische Fluss bleibt erhalten, ohne dass „falscher Bach“ erklingt. Positiver Nebeneffekt: Der Chor findet seine Anschlusstöne.
Abschließend noch ein Gedanke zu den Aufführungsmöglichkeiten: In diesen Zeiten ist ja völlig ungewiss, ob es zu Ostern 2021 wieder ein normales Konzertgeschehen geben wird. Die Markus-Passion ist mit 75 Minuten nicht nur viel kürzer als die Matthäus- oder die Johannes-Passion, sie benötigt auch nur drei Solisten und ein viel kleineres Orchester als die beiden großen Passionen von Bach. Sie ist also leichter aufführbar unter den aktuellen Bedingungen. Vielleicht würde ich für den gesprochenen Part eine/n Sprecher*in oder Schauspieler*in engagieren. Er/sie ist die zentrale Figur und damit steht und fällt das Konzert-Erlebnis.
Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Markus-Passion!
Ute Kelemen (geb. Graulich) studierte Violine bei Thomas Brandis in Berlin und bei Eszter Perényi in Budapest. Seit 1993 ist sie Geigerin bei der Dresdner Philharmonie.
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