Mit den Ohren sehen und mit den Augen hören
Hans-Christoph Rademann dirigiert gerne die Schütz-Motette „Ich bin ein rechter Weinstock“.
Die Motette Ich bin ein rechter Weinstock aus der Geistlichen Chor-Music 1648 von Heinrich Schütz ist für den Dirigenten Hans-Christoph Rademann eine seiner liebsten Kompositionen. Wie in kaum einem anderen Werk kann man in dieser Motette lernen, mit den Ohren zu sehen und mit den Augen zu hören…
Unter der musikalischen Gesamtleitung von Hans-Christoph Rademann hat der Dresdner Kammerchor bei Carus die erste Heinrich-Schütz-Gesamteinspielung vorgelegt. In diesem Monat ist die letzte CD der Gesamteinspielung erscheinen.
Die Motette „Ich bin ein rechter Weinstock“ aus der Geistlichen Chor-Music 1648 ist für mich eine der schönsten Kompositionen von Heinrich Schütz. Wie in kaum einem anderen Werk kann man in dieser Motette lernen, mit den Ohren zu sehen und mit den Augen zu hören. Diese Komposition sang ich schon im Dresdner Kreuzchor als zehnjähriger Knabe und begegnete ihr bis zum achtzehnten Lebensjahr immer wieder. Jedes Mal war ich tief berührt, wusste aber nicht warum. Es musste da ein Geheimnis geben. Später begegnete ich häufiger auch mal nur dem Text und sofort erklang in meinem Innersten diese mir vertraute Musik. Das innere Erklingen der Musik, ausgelöst durch Worte, finde ich sehr faszinierend.
Und eines Tages schloss sich mir dieses ‚Geheimnis‘ auf: In Radebeul bei Dresden hinter meinem Haus konnte ich täglich einen Weinberg betrachten und plötzlich sah ich in der Landschaft die Musik von Heinrich Schütz! Ich nahm die Terrassen und die kleinen Stufen, die die Terrassen verbinden, anders wahr und ich erkannte in dem Bild die Strukturen von Musik. Hier sah ich die mir vertraute Motette „Ich bin ein rechter Weinstock“.
Schütz schreibt einen Weinberg in die Partitur, mit terrassenförmigen Melodieverläufen und kleinen Motiv-Einheiten als Treppenstufen abwärts dazwischen. Und er komponiert Weinreben mit Achtelketten, die Tonstufen umspielen. Im Mittelteil, beim Text „wird er reinigen“, ist ein Dreiertakt komponiert. Das „ER“ als Zeichen für die Trinität wird mit der Zahl 3 symbolisiert. Wie überhaupt Zahlensymbolik eine wichtige Rolle spielt: Zu Beginn singen zwei Stimmen und deuten damit Christus aus, der sagt: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30) und dennoch von Gott geschieden ist. Christus ist die Zwei der Dreieinigkeit. Grandioses geschieht schließlich bei der Textstelle „also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir“: hier formt Schütz aus Musik einen Leib, der aus verdichteten Stimmführungen besteht.
Es sind diese vielseitigen Bedeutungsebenen in den Partituren von Heinrich Schütz, die ich persönlich als echte Kostbarkeit empfinde. Sie erklären mir, was Musik ist und was sie auszudrücken vermag.
So habe ich mir selbst eine innere Schatztruhe angelegt, in der viele Werke dieser großen Musik ein Reservoir bilden, von dem ich zehren kann. Ganz zuoberst aber liegt die Mottete „Ich bin ein rechter Weinstock“, die ich am liebsten wieder und wieder dirigieren möchte, da sie immer wieder neu und frisch entsteht wie bei der ersten Begegnung im Dresdner Kreuzchor.
Hans-Christoph Rademann zählt zu den gefragtesten Chordirigenten und anerkanntesten Chorklangspezialisten weltweit. Wegweisend sind seine Konzerte und Einspielungen mit dem Dresdner Kammerchor und dem Dresdner Barockorchester, besonders der mitteldeutschen Musikschätze des 17. und 18. Jahrhunderts. Unter der musikalischen Gesamtleitung von Hans-Christoph Rademann verwirklicht der Dresdner Kammerchor gemeinsam mit dem Carus-Verlag Stuttgart die erste Heinrich-Schütz-Gesamteinspielung.
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