Stürmisches Treiben
Mendelssohns farbige Vertonung von Goethes Ballade „Die erste Walpurgisnacht“
Nicht biblisches Geschehen, sondern heidnische Riten stehen im Mittelpunkt von Mendelssohns Komposition nach einer Ballade von Goethe: Damit sie ihr alljährliches Walpurgisnacht-Ritual ungestört feiern können, inszenieren die Heiden ein buntes Spektakel, um Christen damit abzuschrecken. Goethes grotesk-humoristischer Darstellung des Konflikts gab Mendelssohn ein starkes musikalisches Gewand.
Goethes zehn Jahre andauernde Freundschaft zu Felix Mendelssohn Bartholdy gehört wohl zu den bedeutendsten, fruchtbarsten und folgenreichsten literarisch-musikalischen Verbindungen des 19. Jahrhunderts. Das Wunderkind war gerade 12 Jahre alt, als es seinen Lehrer Carl Friedrich Zelter 1821 nach Weimar begleitete, um dort den alternden Doyen der deutschen Kunst und Literatur zu treffen. Nachdem Mendelssohn einige seiner eigenen Kompositionen vorgetragen und Autographen von Mozart und Beethoven aus der Sammlung seines Gastgebers vom Blatt gespielt hatte, kam Goethe zur folgenden überraschenden, aber durchaus durchdachten Einschätzung: Der junge Gast sei nichts weniger als ein „zweiter Mozart“.
Zu dieser Zeit hatte Mendelssohn bereits einige von Goethes Gedichten als Lieder vertont bzw. mehrstimmig gesetzt, ihm aber auch das eindrucksvolle Klavierquartett Nr. 3 in h-Moll op. 3 (1825) gewidmet und – seiner älteren Schwester Fanny zufolge – im „Walpurgisnachtstraum“ im ersten Teil des Faust die Inspiration für das skurrile (und durch und durch romantische) Scherzo aus dem Oktett op. 20 gefunden. Aber 1825 hatte Mendelssohn seine Kantate Die erste Walpurgisnacht op. 60 für Orchester, Chor und Solisten – dem Werk, in dem er sich am gründlichsten mit Versen Goethes auseinandersetzte – noch nicht ins Auge gefasst. Die Kantate fußt nicht auf der Traumsequenz im Faust, sondern auf einer Ballade über die Walpurgisnacht in zwölf Strophen, die Goethe schon 1799 geschrieben hatte.
Die Ballade handelt von frühmittelalterlichen heidnischen Riten, die am Vorabend des 1. Mai auf dem Brocken im Harz gefeiert werden. Aus Goethes Sicht entwickelten sich die Riten zur Gegenwehr gegen christliche Eiferer. Um die „dumpfen Pfaffechristen“ zu verschrecken, verkleideten sich die Druiden als satanische Figuren und schlugen so ihre Unterdrücker mit der Beschwörung des von den Christen selbst ‚konstruierten‘ Teufels in die Flucht. Goethes Gedicht stellt symbolhaft einen wiederkehrenden historischen Prozess dar – „daß ein Altes, Gegründetes, Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt und wo nicht vertilgt, doch in den engsten Raum eingepfercht werde.“ Diesen Kommentar Goethes notierte Mendelssohn später auf der Rückseite seines Titelblattes der 1844 veröffentlichten Partitur.
F. Mendelssohn Bartholdy
Die erste Walpurgisnacht op. 60
Besetzung: Soli ATBarB (ATB), Coro SATB, Picc, 2 Fl, 2 Ob, 2 Clt, 2 Fg, 2 Cor, 2 Tr, 3 Trb, Timp, Gran Tamburo e Piatti, 2 Vl, Va, Vc, Cb
Dauer: 36 min
Schwierigkeitsgrad: 1 2 3 4 5
Goethe hatte die Ballade zunächst an seinen musikalischen Vertrauten Zeltergeschickt. Doch obwohl dieser sich begeistert über das musikalische Potenzial der Ballade äußerte, kam er mit ihrer Vertonung nicht recht voran und überließ seinem Schüler Mendelssohn die Aufgabe. Dieser begann damit offenbar auf seiner Italienreise 1830. Eine Flut von Briefen zeigt, dass ein Großteil der Komposition in Rom entstand, wo es Mendelssohn irgendwie gelang, sich in die vielfältige musikalische Bilderwelt zu versetzen, die den Konflikt der Druiden mit den frühchristlichen Missionaren auf dem nebelverhangenen Brocken zum Leben erweckt. Auf der Rückreise hatte er die Gelegenheit, in Mailand große Teile der Kantate einem ungewöhnlichen Zuhörer vorzuspielen: Carl Thomas Mozart, der älteste Sohn Mozarts und „der einzige Mensch, der es bis jetzt kennt, . . . und der hatte so viel Freude daran, daß mir die gewohnten Sachen auch wieder neuen Spas machten; er wollte durchaus, ich solle es gleich drucken lassen.“
Bei Carus sind alle geistlichen Chorwerke von Felix Mendelssohn Bartholdy in kritischen Urtext-Ausgaben mit praktischem Aufführungsmaterial erhältlich. Zu den wichtigsten Werken wie den Oratorien Elias, Paulus, den 42. Psalm sind auch Übehilfen erhältlich, carus music, die Chor-App, sowie Übe-CDs der Reihe Carus Choir Coach.
Schließlich vollendete Mendelssohn das Werk Anfang 1832, kurz bevor Goethe und Zelter verstarben. Doch wie bei vielen seiner großen Werke sollte diese nicht die Fassung letzter Hand werden. Statt das Manuskript nach der Berliner Premiere im Januar 1833 für den Druck vorzubereiten, verfiel Mendelssohn in die ihm eigenen Selbstzweifel und legte das Werk für ganze zehn Jahre beiseite. Als er sich die Partitur 1842 noch einmal vornahm, schrieb er sie „von A bis Z“ um. Dabei unterzog er das Werk einer umfassenden und gründlichen Überarbeitung; einen Prozess, den er als Mischung aus genereller, breit angelegter Rekomposition und sehr viel feinerer „Schneiderarbeit“ beschrieb. Mendelssohn dirigierte die Premiere dieser überarbeiteten Version im frühen Februar 1843 im Leipziger Gewandhaus; sie erschien gut ein Jahr später in gedruckter Form im Leipziger Verlag Friedrich Kistner.
Die erste Walpurgisnacht wurde eines von Mendelssohns erfolgreichsten Chorwerken. Zu seinen angesehensten Bewunderern gehörte Hector Berlioz, der 1843 der Premiere in Leipzig beiwohnte und später seine Eindrücke aufzeichnete:
Man muss Mendelssohns Musik hören, um eine Vorstellung von den verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten zu erhalten, die dieses Gedicht einem geschickten Komponisten bietet. Er hat auf bewundernswerte Weise daraus geschöpft. Seine Partitur ist von perfekter Klarheit, trotz seiner Komplexität; die vokalen und instrumentalen Effekte verlaufen kreuz und quer, sie widersprechen sich, sie stoßen aufeinander in einer so scheinbaren Unordnung, dass diese der Gipfel der Kunst ist. Ich möchte besonders zwei großartige Stellen erwähnen, die von ganz gegensätzlichem Charakter sind: das geheimnisvolle Stück zur Aufstellung der Wächter und den Schlusschor in dem sich die Stimme des Priesters in Abständen ruhig und fromm über den Höllenlärm der falschen Dämonen und Geister erhebt. Man weiß nicht, was man an diesem Finale mehr loben soll: das Orchester oder den Chor oder das stürmische Treiben des Ganzen.
(Übersetzung: Helga Beste)
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!