Eine Faszination, die nicht nachlässt …
Howard Arman über den Reiz des Unvollkommenen, Vermutungen und Editionsentscheidungen
Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem KV 626
Ergänzt und herausgegeben von Howard Arman
Carus 51.652/00
Requiem KV 626 (Fassung von Howard Arman)
Einspielung des Chors des Bayrischen Rundfunks und der Akademie für Alte Musik Berlin unter der Leitung von Howard Arman
Carus 51.652/99
Herausgeber Howard Arman (links) und Carus-Cheflektor Dr. Uwe Wolf im Gespräch
Carus-Cheflektor Uwe Wolf sprach mit Howard Arman über seine neue Fassung von Mozarts Requiem. „Noch eine Fassung?“ mag man zunächst denken, sind doch neben der traditionellen Süßmayr-Fassung eine ganze Reihe weiterer Versionen erhältlich – auch bei Carus. Doch das Mozart-Fragment trägt ein solch immenses Potenzial in sich, dass die Herausforderung und der Reiz, es zu vervollständigen, ungebrochen sind. Howard Arman über seine Motivation, Editionsentscheidungen – und seinen Umgang mit Süßmayr.
Was fasziniert Sie so an Mozarts Requiem?
Oh, wie viel Zeit haben wir? Dieses Werk übt eine Faszination auf mich aus, die nicht nachlässt. Auch, vielleicht sogar insbesondere, durch die Tatsache, dass das Unvollkommene immer Bestandteil des Stücks sein wird. Um das Stück in seiner Ganzheit zu erfassen, suchen wir also etwas, dass uns immer verborgen bleiben wird – eine Ahnung von der ungeschriebenen Musik des Requiems, die Musik, die mit Mozart gestorben ist. Dass Musik von Süßmayr an ihrer Stelle steht, gehört zur frühesten
Rezeptionsgeschichte des Werks – und der daraus resultierende Stilbruch ist ja ein Teil davon.
Es gibt den vollständigen Anfang, es gibt fragmentarische Sätze, und die Teile von Sanctus bis Schluss fehlen ganz – wie gehen Sie damit um?
Das war zunächst eine prinzipielle Entscheidung: Sätze, zu denen es Material von Mozart gibt, also von seiner Hand geschrieben, habe ich orchestriert und vervollständigt; bei denen, die bei Mozart ganz fehlen, da lasse ich Süßmayr den Vortritt. Die von Mozart bereits vollständig notierten Vokalstimmen stellen für den Komponisten orchestraler Ergänzungen eine unermessliche Herausforderung dar. Sie sind in sich kompositorisch vollkommen, und doch wissen wir, dass etwas dazu geschrieben werden muss, und zwar etwas, das neben der Begleitfunktion auch eine eigene Daseinsberechtigung hat; Mozart schrieb in der Regel keine Töne zum Selbstzweck.
Ich habe es bewusst vermieden, kurze Begleitfiguren musterhaft zu wiederholen. Sie werden oft variiert, und zwar immer sinnbildlich, also in Zusammenhang mit dem Text, der ja sonst bei Mozart eine durchaus bildreiche Umsetzung findet. Insbesondere der Satz „Tuba mirum“ bietet viel Platz für solche Überlegungen bei der Vervollständigung. Neben der einleitenden Musik der Posaune hat Mozart weitestgehend das absolut Wesentliche notiert, Solostimmen mit einer unbezifferten Basslinie. Diese Bassstimme hat eine klare rhythmische Prägung, aber selbst da wo sie aus Ketten von Achtelnoten besteht, scheint mir eine Ergänzung durch abwechslungsreiche Begleitfiguren für die oberen Streicher gerechtfertigt zu sein – ja durch die starken Bilder des Textes sogar unerlässlich.
Das „Lacrimosa“ stellt eine Besonderheit dar, weil Mozart keine Musik nach dem achten Takt notiert hat; hier also habe ich mit neu komponierter Musik angesetzt, um den Satz zu vervollständigen. Darauf folgt ein „Amen“, für das ich Mozarts berühmte Skizze zu einer Fuge in d-moll aufgegriffen und zu einer vollständigen Fuge auskomponiert habe. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob dieses Skizzenblatt mit dem Anfang einer Fuge mit zwei Themen für das Requiem bestimmt war – auch nicht, was musikalisch daraus geworden wäre, wenn Mozart es hier verwendet hätte. Ich habe es aber als eine faszinierende, herausfordernde Möglichkeit gesehen, die Sequenz mit einem substanziellen, kontrapunktischen Satz zu beenden.
Warum verzichten Sie auf eigenes Eingreifen bei den Teilen, zu denen nichts von Mozart überliefert ist?
Auf Süßmayrs Orchestrierungen von Mozarts Fragment zu verzichten und dafür neue zu schreiben, wie wir es in dieser Ausgabe tun, ist etwas, das auf nachvollziehbare technische und musikalische Überlegungen zurückgeht. Im Falle vom „Sanctus“, „Agnus Dei“ und „Communio“ aber ist Süßmayr selber, seiner eigenen Aussage nach, der Komponist; auch die Idee, das gesamte Requiem mit Musik von Mozarts „Introitus“ und „Kyrie“ zu beenden, sei seine gewesen. Süßmayrs Originalkompositionen durch sogenannte „Verbesserungen“ zu verändern wäre eine Art des Eingreifens, die weder sachlich noch ethisch zu den Aufgaben dieser Edition gehört. Hier wird kein Wunsch verwirklicht, Süßmayrs eigene Musik durch etwas „Besseres“ oder „Geeigneteres“ zu ersetzen. Über ihre Qualitäten kann und soll man natürlich reden – wir wissen, in
welcher Situation sie geschrieben werden musste – aber sie wird hier respektiert, nicht zuletzt vor den Hintergrund ihrer Bedeutung in der Geschichte des Requiems. Wir geben Süßmayrs Autograph in Form einer kritischen Ausgabe wieder.
In der zweiten „Osanna“-Fuge, schreibt Süßmayr keine tutti-Angabe für den Chor – also belasse ich hier die Fuge solistisch. In der Praxis hat mich dies überzeugt, wobei auch der tonartliche Unterschied zwischen den zwei Fugen eine Rolle spielt. Ich denke nicht, dass es ein Fehler von Süßmayr war – und selbst wenn doch, dann ein sehr schöner.
Sie haben Ihre Fassung ja selbst aufgeführt und eingespielt. Mussten Sie Überzeugungsarbeit leisten bei den Musiker*innen?
Ich habe das mit der Akademie für Alte Musik Berlin und dem Chor des Bayerischen Rundfunks gemacht und da war absolut keine Überzeugungsarbeit notwendig. Was mir aber wirklich sehr viel gegeben hat, waren die positiven Reaktionen des Orchesters. Das sind Kolleg*innen, die spielen das Requiem in allen möglichen Fassungen immer und immer wieder – ihre Wertschätzung bedeutet mir sehr viel.
Howard Arman hat im Carus-Verlag 2024 seine Fassung von Mozarts Requiem veröffentlicht. Er war von 2016 bis 2022 Künstlerischer Leiter des BR-Chores. Zu seinen eigenen Kompositionen zählen, neben Bühnen-, Orchester- und Vokalwerken, zahlreiche chorsinfonische Arrangements und Werkausgaben von Musik vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.
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