Übergreifende Spannungsbögen und dynamische Wellen

Sinfonische Prinzipien in Bruckners a cappella Werken

Bruckners sinfonisches Schaffen wird in der Literatur hinreichend behandelt. Seine a cappella Chorwerke hingegen fristen ein Schattendasein und werden meist nur als Nebenprodukte abgehandelt. Sehr zu Unrecht, wie Chordirigent Jan Schumacher findet, der sich – auch im Hinblick auf der Bruckner-Jubiläumsjahr 2024 – für seinen Beitrag mit diesem Aspekt im Oeuvre des österreichischen Komponisten befasst hat.

In der umfangreich vorliegenden Bruckner-Literatur werden die a cappella Chorwerke des Komponisten in den meistens Fällen als wenig relevantes Nebenprodukt seines kompositorischen Schaffens behandelt. Es wird gerne pauschal behauptet, dass Bruckners Chorwerke geschrieben wurden, bevor er sich der Sinfonie zuwandte. In der Tat entstand eine Vielzahl kleinerer Chorkompositionen in Windhaag und Linz, dabei wird aber gerne übersehen, dass Bruckners bedeutendste a cappella Werke keinesfalls vor den Sinfonien entstanden sind, sondern vielmehr parallel zu ihnen (ausgenommen das Ave Maria von 1861):

Jan Schuhmacher

Jan Schumacher ist für den Carus-Verlag als Herausgeber und Referent tätig.

Bruckner beendet im Jahr 1863 seine zweijährige Studienzeit bei Otto Kitzler und arbeitet im Anschluss mehrere Jahre an seiner 1. Sinfonie, die in der ursprünglichen Version 1866 fertig gestellt ist. Danach komponiert er zwischen 1869 und 1876 die 2., 3., 4. und 5. Sinfonie. 1869 entsteht auch Locus iste. Nach einer weiteren 3-jährigen Pause verfasst Bruckner zwischen 1879 und 1887 die 6., 7. und 8. Sinfonie – in diesen Jahren schreibt er auch „auf dem Höhepunkt der künstlerischen Reife“ (Alberto Fassone) das Os justi (1879), Christus factus est (1884) und Virga Jesse (1885). Parallel zu den Arbeiten an der unvollendeten 9. Sinfonie vertont Bruckner schließlich 1892 den Kreuzeshymnus des Venantius Fortunatus Vexilla Regis.

Es liegt auf der Hand, dass sich die kompositorischen Mittel Bruckners – wenn auch in gänzlich anderen räumlichen Dimensionen – in Sinfonie und Motette gleichen (und interessanterweise sind diese Mittel durch ihre Kompaktheit in den Chorwerken wesentlich plastischer nachvollziehbar als in den sinfonischen Werken!). Horst-Günther Scholz hat (bereits – oder erst?) 1961 mit seinem Buch Die Form der reifen Messen Anton Bruckners wegweisende Untersuchungen zu Bruckners Kompositionstechnik durchgeführt, die er anhand der Orchestermessen belegt, aber ausdrücklich mit dem Hinweis versieht, dass die dargestellten Prinzipien gleichsam auch für die sinfonischen Formzusammenhänge gültig sind. Für Bruckners a cappella Kompositionen steht ein Standardwerk dieser Qualität nach wie vor aus.

Anton Bruckner Locus iste  Carus 3.028/20

Anton Bruckner Os justi  Carus 40.114/30

Scholz beschreibt grundlegende Entwicklungstypen und kompositorische Merkmale von Bruckners Kompositionen, die im Folgenden (teilweise stark vereinfacht) aufgelistet sind:

  • Bruckners Werke basieren zuallererst auf Motivgruppen, die sich in Verwandtschaft oder im Gegensatz zueinander befinden und sich zu größeren Verbünden thematischer Sätze aneinanderreihen.
  • das zu Grunde liegende motivische Material (vorher schon aufgeschlüsselt von Robert Haas, 1934) und dessen „Funktion im gesamtmelodischen Zusammenhang“, oder auch deren „Tonsymbolik“ (bei Haas zum Beispiel der „Oktavsturz“ als „Sinnbild göttlicher Größe“)
  • die Nutzung von Kernthemen für ganze Kompositionen
  • metrische Schemata, Maßverhältnisse und Proportionen, sowie das Zeitmaß im Allgemeinen
  • harmonische Gerüste und die zielgerichtete Struktur der harmonischen Bewegung, sowie deren Einfluss auf die Dramaturgie der Komposition
  • Klangstrukturen, z.B. durch „Wechsel in den Verteilungen und in der Setzweise der Stimmen“ (in den Motetten sehr greifbar z.B. im Ave Maria)
  • dynamische (hier im Sinne von „Lautstärke“, Scholz verwendet den Begriff „Außendynamik“) Entwicklungen, insbesondere auch im Verhältnis zu Harmonik und Klangstrukturen
  • sich durch die Gesamtheit der vorab genannten Parameter ergebende übergeordnete melodische Bewegungen, im Sinne von großen „dynamischen Wellen“ und deren unterschiedliche Verlaufsmöglichkeiten, auch deren Anfangs- und Endvarianten, wie z.B. die für Bruckner typisch „abreißenden“ Schlüsse.

Zusammenfassend kann man sagen, dass in Bruckners reiferen Werken (also ab 1863) an Stelle einer fester Thematik ein Primat der Motivik tritt, das der Entfaltung freier melodischer Bögen dient, die an keine starre Metrik gebunden sind und immer in einem „über die unmittelbare Bezogenheit hinwegzielenden Spannungsverhältnis zueinander“ (Scholz) stehen. Diese motivischen Einheiten sind Träger von Entwicklungen, die man nachvollziehen kann, wenn man die Zielpunkte der in „Wellen“ verlaufenden Parameter Melodik, Harmonik, Klangbildung, Außendynamik und Wandel des Ausdruckscharakters erkennt, zumal diese sich nahezu immer ergänzen; oder es ebenso aussagekräftig ist, wenn sie dies nicht tun!

Anton Bruckner Christus factus est  Carus 40.114/10

Anton Bruckner Virga Jesse Carus 40.114/40

Alle Hörbeispiele stammen von der CD Carus 83.466 „Anton Bruckner. Ave Maria“ mit dem NDR-Chor unter Leitung von Hans-Christoph Rademann. Das Album ist erhältlich über Spotify.

Hier möchte ich gerne den Hinweis des bedeutenden Bruckner-Forschers Leopold Nowak anfügen, dass man bei Bruckner die Form erst dann vollständig begreift, „wenn man dem „Dynamischen“, dem „Bewegenden“ genügend Aufmerksamkeit schenkt.“

Die genannten Merkmale sind letztlich Basis der meisten Kompositionen des späten 19. Jahrhunderts, treten jedoch nur bei wenig anderen Komponisten in so ausgefeilter Weise zutage, wie das bei Bruckner der Fall ist.

Überhaupt darf im Zuge einer kompositionstechnischen Analyse niemals vergessen werden, dass Bruckner – wie auch jeder andere hervorragende Komponist – diese Mittel einsetzt, um Musik an sich und immer auch deren Aussage, insbesondere, wenn es sich um textgebundene Musik handelt, zu transportieren.

Was bedeutet dies nun für die musikalische Praxis?

Dass die eingehende Beschäftigung mit der Partitur die Grundlage einer jeden Interpretation sein muss, versteht sich von selbst. Das Bemühen, die tiefe Struktur des kompositorischen Gesamtkonzeptes Bruckners und deren Bedeutung für eine Interpretation der Kompositionen zu begreifen, muss immer wieder die Aufmerksamkeit des Dirigenten auf sich ziehen. Ein bloßes Aneinanderreihen von einzelnen Abschnitten wird insbesondere Bruckners Musik nicht gerecht – es muss zwingend ein interpretatorisches Gesamtkonzept zu Grunde liegen.

Zwei Beispiele versuchen dies (nur im Ansatz!) zu verdeutlichen:

Den Hymnus Vexilla regis schreibt Bruckner 1892 ohne äußeren Anlass und „nach reinem Herzensdrange“, angeregt durch sein besonderes Verhältnis zu den nahezu geheimnisvollen Riten der Karwoche (siehe auch die Vortragsbezeichnung des Graduale Christus factus est: „Moderato, misterioso“!). Diese Stimmung findet ihren Niederschlag in der Anlage des Beginns: Aus dem Unisono spreizt sich allmählich der Klang auf, was im Übrigen eine direkte kompositorische Entsprechung in den Orchesterwerken hat – man denke an die Tremoli an den Anfängen der Sinfonie-Sätze.

Im Vexilla regis entwickelt sich die Komposition aus einem Ton, aber man findet ähnliche Anfangsstrukturen auch im Christus factus est, dem Virga Jesse, dem Ave Maria und dem Os justi. Auch wenn hier zu Beginn schon eine komplette Harmonie erklingt, bleibt diese jedoch zunächst statisch, bevor sie – zumeist in kleinen Schritten einzelner Stimmen – eine Öffnung erfährt.

Anton Bruckner Vexilla regis prodeunt Carus 40.114/50

Anton Bruckner Ave Maria Carus 40.140/10

Nach den eingangs vorgestellten Formprinzipien ist es nicht verwunderlich, dass der Schluss der Motetten im Sinne des übergreifenden Spannungsbogens den Anfängen in gewisser Weise spiegelbildlich gegenübersteht. Alle Motetten der reiferen Schaffensjahre enden still und spannungsvoll – besonders eindrucksvoll im Falle des Os justi, wo sich eine fünftaktige Soprankantilene über den in der Grundtonart erklingenden harmonischen Orgelpunkt der Unterstimmen erhebt, um schließlich mit demselben Tonmaterial in einem Unisono „Alleluja“ des ganzen Chores zu enden. Dieser wesentliche Zusammenhang zwischen Anfang und Ende der Werke muss dem ausführenden Dirigenten immer bewusst sein.

Als besonders eindrückliche Beispiele für die „dynamischen Wellen“ seien die ausgefeilten Höhepunkt-Strukturen in Virga Jesse und Christus factus est genannt (wenn sie auch an dieser Stelle nicht genau analysiert werden können). Die Beschäftigung mit der genauen Funktion eines jeden Abschnittes ist für den Dirigenten entscheidend und nimmt selbstverständlich unmittelbaren Einfluss auf die Interpretation: Wie gestaltet man beispielsweise das Ende der Formteile? Phrasiert man den letzten Ton gemäß des Textes ab? Lässt man die angegebene außendynamische Stufe bestehen? Oder verstärkt man das Phrasenende sogar, um der darauffolgenden Pause (und auch dem danach folgenden Einsatz!) mehr Gewicht zu verleihen?

Die beiden Beispiele zeigen nur Teilaspekte des Gesamtgefüges, aber sie unterstreichen die Notwendigkeit, das „große Ganze“ der jeweiligen Komposition Bruckners genau zu erfassen. Horst-Günther Scholz fasst das Besondere in Bruckners Musik ideal zusammen, wenn er schreibt: Die „durchtragende Spannkraft in der Zielgerichtetheit der melodischen Bewegung, die Entfaltung von Wellensteigerungen, verleihen seiner Musik das Gepräge der Einmaligkeit, sie kennzeichnen seinen ureigenen […] künstlerischen Ausdruckswillen […].“

Jan Schumacher, Frankfurt, Juni 2021

Anton Bruckner – A Capella

Locus iste

Das berühmte Graduale für das Kirchweihfest, das 1869 für die Einweihung der Votivkapelle des Linzer Doms entstanden ist.

Os justi

Das Graduale an den Festen heiliger Kirchenlehrer entstand 1879. Der lydische Satz ist, wie Bruckner selbst sagt, „ohne #, ohne b, ohne Dreiklang auf der 7. Stufe, ohne Quartsextakkord, ohne Vier- und Fünfklänge”.

Christus factus est

40.114/10

Anspruchsvolles Graduale, das mit chromatischen und modulatorischen Wendungen dem Passionstext hohe Ausdruckskraft verleiht.

Virga Jesse

Vexilla regis prodeunt

mit deutscher Übersetzung (nicht singbar) „Ich habe es nach reinem Herzensdrange komponiert”, schrieb Bruckner über seine 1892 entstandene letzte kleine Kirchenkomposition.

Ave Maria

40.140/10 Nach Beendigung seiner Studien bei Sechter schrieb Bruckner 1861 das „Ave Maria” und berichtet in einem Brief vom 3.10.1861: „Ich wurde zuletzt bei meinem Chor (7st. Ave Maria) großartig 2mal applaudiert”.

Bruckner für Gottesdienst und Konzerte

2.065/00 34 kleinere Kirchenwerke (lateinisch oder deutsch), meist Coro SATB. „Neben den bekannten Motetten (Locus iste, Ave Maria usw.) enthält der Band echte Raritäten, die sonst schwer zu bekommen sind – wenn überhaupt …

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert