Mit Schütz durch das Jahr (I)
Werke für Advent, Weihnachten und Altjahresabend
Am 6.11.1672 (nach dem julianischen Kalender, bzw. dem 16.11. in unserem heutigen, gregorianischen Kalender) verstarb in Dresden hochbetagt der kurfürstliche Kapellmeister Heinrich Schütz. Der 350. Todestag im Jahr 2022 gibt uns Gelegenheit, an einen der wichtigsten und wegweisendsten Komponisten unserer Musikgeschichte zu erinnern. Sein breites Œuvre erlaubt uns in fast jeder Konstellation von Vokalmusik (fast ausschließlich solche ist von Schütz erhalten), während des ganzen Jahres mit passender Musik Heinrich Schütz zu gedenken, mit ihm durch das Jahr zu gehen.
Die hochspezialisierte Musikpraxis unserer Zeit hat Heinrich Schütz ein wenig aus der Breite hin zu den Spezialensembles verlagert. Das ermöglicht uns heute, Schütz in einer großartigen Qualität zu erleben – vielleicht in einer ähnlichen Qualität, wie auch Schütz selbst seine Werke z.B. mit der hervorragenden Dresdner Hofkapelle hat aufführen können.
Aber das war damals und ist heute nicht die einzige Art, Schütz zu erleben. Schütz hat viele seiner Werke in Drucken verbreiten lassen und damit ganz unterschiedlichen Ensembles seiner Zeit zur Verfügung gestellt, den Hofkapellen ebenso wie den Schulchören der städtischen Lateinschulen sowie den – teils kleinen, teils aber auch überraschend großen – Adjuvantenchören im ländlichen Raum. Musik, die das nicht verträgt, hat er nicht drucken lassen, wie z.B. die Intermedien der Weihnachts-Historie SWV 435, die nur handschriftlich verbreitet wurden, und um die man sich bewerben musste.
Heinrich Schütz
Weihnachts-Historie SWV 435
- Partitur: Carus 20.435/50
- carus music, the Choir Coach:
Carus 73.352/02
Schütz nutzt die Vorreden, um einen Teil seiner Vorstellungen von der richtigen Aufführung zu vermitteln, und auch, um unterschiedliche Aufführungsvarianten aufzuzeigen, so für die Motetten der Geistlichen Chor-Music – von klein bis groß besetzt. Und Beispiele für die Umsetzung solcher Varianten haben sich auch von Schütz selbst erhalten.
Auch der Kapellmeister der hervorragenden Dresdner Hofkapelle hat, angesichts der „Boßheit der ietzigen/ den freyen Künsten widrigen Zeit“ des Dreißigjährigen Kriegs, ambitionierte Projekte zurückstellen müssen und stattdessen in den beiden Teilen der „Kleinen Geistlichen Concerten“ 1636/39 „Kleinkunst“ für wenige Sänger und Continuo veröffentlicht; freilich auf höchstem musikalischem Niveau. Musik für Solisten, die aber in Teilen auch sehr gut chorisch aufgeführt werden kann.
Eine wahre Fundgrube an ganz leicht realisierbaren, aber erstklassig gesetzten Tonsätzen bietet außerdem der Becker-Psalter. Vierstimmig gesetzt laden die Psalmen zu Besetzungsvarianten aller Art ein: Vom Sologesang mit Orgel über den vierstimmigen Chor bis hin zur abwechslungsreichen Ausgestaltung der Strophen mit wechselnden instrumentalen und vokalen Besetzungen (sehr schön umgesetzt auf der CD 83.276). Da ist auch für jede Corona-Bedingung eine Variante dabei.
Eine breite Palette Musik mit unterschiedlichen Anforderungen und noch mehr Aufführungsvarianten steht uns also heute im Werk von Heinrich Schütz zur Verfügung – vom solistischen Concert mit einer Singstimme und Orgel bis hin zur vielchörigen Klangpracht. Das Anliegen dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass Schütz nicht nur Musik für Profis und „kunstoffene“ Zeiten komponiert hat, sondern eigentlich für jeden Chor, jeden Kirchenchor, ja jede singende Konstellation etwas bereithält; der Beitrag möchte ermuntern, es zu wagen, diese tolle, unter die Haut gehende Musik neu musizierend zu entdecken – mit „historischen“ Instrumenten genauso wie mit bewusst gespielten „modernen“. Und ja: Auch „corona-konform“ geht bei Schütz viel! In loser Folge möchte ich ein paar Lieblingsstücke durch das Jahr vorschlagen und auch zum Experimentieren mit Schütz Musik einladen.
Geistliche Chor-Music 1648
Schütz Gesamtausgabe Bd. 12
- Partitur: Carus 20.912
- Schütz Gesamteinspielung Vol. 1:
Carus 83.232
Becker-Psalter
- Schütz Gesamteinspielung Vol. 15:
Carus 83.276
Advent, Weihnachten, Altjahresabend
Der Advent ist im Werk von Heinrich Schütz unterrepräsentiert; es war im 17. Jahrhundert eine „stille Zeit“ der Vorbereitung auf Weihnachten. Einige adventliche Texte finden sich in der Geistlichen Chor-Music von 1648, z.B. „O lieber Herre Gotte, wecke uns auf“ SWV 381 (Text von Martin Luther nach der vorreformatorischen Adventskollekte „Excita, Domine“) oder ein Text aus der Evangelienlesung zum 2. Advent in der Motette „Sehet an den Feigenbaum“ SWV 394 (Lk 21,29–31.33). Diese siebenstimmige Motette hat Schütz für gemischt instrumentales-vokales Musizieren eingerichtet. Im Vorwort schreibt er dazu, „das mit besonderem Effect die Partheyen nicht dupliret, Tripliciret, &. Sondern in Vokal- und Instrumental-Partheyen vertheilet … Musiciret werden können“. Bei „Sehet an den Feigenbaum“ hat Schütz den Sopran II und Tenor I vokal besetzt, alle anderen Stimmen sind instrumental aufzuführen. In der Wahl der Instrumente ist man ganz frei; dass ein homogener Klang entsteht und die Vokalstimmen gut zu hören sind, ist wichtiger, als dass es Instrumente der Schütz-Zeit sind. Und sogar mit den beiden Stimmen allein mit Orgel kann die Motette musiziert werden (und natürlich können die Singstimmen solistisch oder chorisch besetzt werden). Viele Motetten lassen sich so aufführen, man muss nur darauf achten, dass der Text vollständig vorgetragen wird.
Im ersten Teil der Kleinen geistlichen Conzerte gibt es zudem eine der ganz wenigen Choralbearbeitungen von Schütz: das Adventslied „Nun komm, der Heiden Heiland“ SWV 301 (wahlweise auch lateinisch: Veni redemptor) für zwei Soprane, zwei Bässe und Continuo. Gedacht ist der Satz voller kontrapunktischer Finesse für Solisten, er ist aber auch für kleine chorische Besetzungen denkbar.
Für Weihnachten ist die Auswahl freilich größer. Natürlich wird man zuerst an die Weihnachts-Historie SWV 435 denken. Diese erfordert jedoch einiges an instrumentalem wie vokalem Aufwand und ist mit 40 Minuten Dauer schon fast ein kleines Oratorium. Die Motette „Ein Kind ist uns geboren“ SWV 384 (Jes 9,6.7) aus der Geistlichen Chor-Music kann in oben beschriebener Weise gemischt vokal-instrumental aufgeführt werden. Gesungen werden können hier z.B. die beiden Soprane (speziell bei dieser Motette wäre auch zwei Soprane und Alt reizvoll) oder auch Sopran I und Tenor I. Die übrigen Stimmen werden von Instrumenten gespielt. Den Text „Ein Kind ist uns geboren“ gibt es daneben auch als kleines geistliches Konzert für vier Solostimmen (oder kleinen Chor) und Continuo (SWV 302) und als Concert für zwei Tenöre und Continuo (SWV 497). Ebenfalls drei Vertonungen liegen von der Weihnachtsantiphon „Hodie Christus natus est“ vor: lateinisch als Concert für Sopran, Tenor und Continuo (SWV 315) oder als sechsstimmige Motette (SWV 456), die erneut zu verschiedenen Besetzungsvarianten einlädt. Für die deutsche Variante wählte Schütz direkt eine exquisite Besetzung: für drei etwas virtuose Sopranstimmen und ein ebenso mit drei Sopranstimmen besetzten Capellchor ad lib., natürlich mit Continuo (SWV 439). Übrigens: Den Continuo kann man farbig besetzen, muss man aber auch nicht. Auch Orgel allein ist möglich (und historisch), zumal wenn – wie zur Schütz-Zeit in der Kirche üblich – die große Kirchenorgel verwendet wird.
Als Psalm sieht die neue Perikopen-Ordnung an allen Weihnachtstagen Ps 96 vor; den gibt es kleinbesetzt und variabel als Becker-Psalm („Singet dem Herrn ein neues Lied“ SWV 194), als Concert für zwei Violinen, Sopran oder Tenor und Continuo (SWV 342) – und auch als Doppelchor nach einer Komposition von Giovanni Gabrieli (SWV 463).
Am Altjahresabend hat Ps 121 seinen Platz: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen“. Schütz vertont diesen Psalm sowohl in den Psalmen Davids von 1619 (SWV 31, achtstimmig) als auch in der Symphoniae sacrae III von 1647. Letztere Komposition, SWV 399, eröffnet wieder verschiedene Besetzungsalternativen: Auf jeden Fall braucht man zwei Violinen, Alt, Tenor, Bass (vorzugsweise Solisten) und Continuo. Wahlweise hinzuziehen kann man einen vierstimmigen Chor und/oder vier Instrumente (Streicher oder Bläser). Die Instrumente gehen überwiegend mit dem Chor, es gibt aber auch einen Abschnitt, in dem die drei tiefen Instrumente mit dem Solo-Sopran ein Ensemble bilden; ein toller Effekt. Und Psalm 121 gibt es natürlich auch im Becker-Psalter („Ich heb mein Augen sehnlich auf“ SWV 226). Dieser Satz ist auf der Vol. 15 der Schütz-Gesamteinspielung (Carus 83.276) in verschiedenen denkbaren Besetzungskonstellationen eingespielt.
Oh lieber Herr Gott, wecke uns auf SWV 381
- Partitur: Carus 20.381
Ein Kind ist uns geboren SWV 302
- Partitur: Carus 20.302
Singet dem Herren ein neues Lied SWV 342
- Partitur: Carus 20.342
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen (SWV 399)
- Partitur: Carus 20.399
Dr. Uwe Wolf ist als Musikwissenschaftler vor allem im 17. und 18. Jahrhundert zuhause. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von der Zeit Monteverdis und Schütz über Bach und die Generation der Bach-Söhne und -Schüler bis hin zur Wiener Klassik. Seit Oktober 2011 leitet er das Lektorat des Carus-Verlags.
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