Camille Saint-Saëns
Ein ganz persönliches Porträt
Camille Saint-Saëns gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des französischen Musiklebens, als Komponist, Professor und Organist. 20 Jahre lang wirkte er an der Église de la Madeleine, die mit ihrer Cavaillé-Coll-Orgel zu den bedeutendsten Kirchen von Paris zählt. Dennoch sind viele seiner Werke heute in Vergessenheit geraten. Dabei kann dieser außerordentliche Musiker nicht hoch genug geschätzt werden, findet (nicht nur) Denis Rouger. Ihn verbindet sowohl seine eigene Tätigkeit an der Madeleine als auch seine Familiengeschichte mit dem Komponisten.
Mein Großvater Pierre Renauld, später 2. Kapellmeister an der Opéra Comique in Paris, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Chorleiter tätig. Es ist eine fast schon ungeheure Vorstellung, dass er die erste Aufführung von Stravinskys Sacre miterlebt oder auch dass er persönlich mit Debussy und Fauré gesprochen hat! 1910 führte er Saint-Saëns‘ Messe op. 4 auf. Als meine Mutter eines Tages ihre Notenbibliothek aufräumte, fand sie ein Exemplar dieser Messe. Zufällig blätterte sie die erste Seite um – und fand eine persönliche Widmung von Saint-Saëns an meinen Großvater. « Pour Monsieur Pierre Renauld en souvenir de la belle exécution du 22 mai 1910 ». Für Herrn Pierre Renauld in Erinnerung an die schöne Aufführung am 22. Mai 1910 Camille Saint-Saëns. Wir wissen, dass die beiden Musiker sich auch später nahestanden; z.B. schickte Saint-Saëns meinem Großvater in der Sommerzeit verschiedentlich Postkarten – für mich alles wunderbare Zeugnisse der Musikgeschichte und gleichzeitig persönliche Erbstücke, die ich in Ehren halte.
Saint-Saëns: Ave verum in Es
CD Carus 2.311/97
Noten Carus 2.311
Schließlich gehört Camille Saint-Saëns (1835-1921) zu den wichtigen Figuren der französischen Musikszene. Er war ein Wunderkind und spielte bereits mit drei Jahren Klavier. Im Alter von acht begann er, Harmonie und Klavier zu studieren, und er war kaum elf Jahre alt, als er sein erstes Konzert gab. Zusätzlich studierte er Orgel und Komposition und trat mit 18 die Organistenstelle an der Kirche Saint-Merry und später, 1857, an der Madeleine an, wo der er zwanzig Jahre lang blieb und u.a. für seine spektakulären Improvisationen bekannt wurde. Saint-Saëns konzertierte auf der ganzen Welt mit Klavier sowie Orgel, außerdem komponierte er und unterrichtete. Berlioz, Wagner und Liszt zählten zu seinen Freunden und Bewunderern, auch Clara Schumann besuchte ihn. Liszt nannte Saint-Saëns „den ersten Organisten der Welt“ und half ihm später, die Oper Samson et Dalila aufzuführen, Saint-Saëns hingegen widmete Liszt seine wunderbare 3. Symphonie mit Orgel. Es wird erzählt, dass Saint-Saëns eines Tages vor einem verblüfften Wagner die ganze Oper Tristan auswendig am Klavier vortrug und alle Rollen (mit seiner furchtbaren grellen Stimme) dazu sang.
Als Komponist hat Saint-Saëns unglaublich viel geschaffen: Außer 13 Opern komponierte er zahlreiche Konzerte, Symphonien, Kammermusik, Programmmusik, Lieder, sogar eine Filmmusik – und geistliche Musik. Und obwohl er als Komponist weltberühmt wurde, stand sein Werk oft in der Kritik. Vielleicht weil man in ihm keinen Revolutionär oder zumindest Neuerer sah, obwohl er doch noch lebte, als Fauré, Debussy, Stravinsky, Bartók oder Schönberg ihre Meisterwerke schrieben. Die meisten seiner Werke komponierte Saint-Saëns vor 1896; anfangs empfand man seine Musik als zu modern, am Ende als zu traditionalistisch.
Man darf aber auf keinen Fall vergessen, dass Saint-Saëns viele Impulse gegeben hat, viele Studenten und Komponisten unterstützte und prägte. Als Professor baute er seinen Unterricht auf der deutschen Musik auf und bildete Gabriel Fauré, Paul Dukas und viele andere sehr aufgeschlossen und mit Vorbildern wie Bach, Haydn, Mozart, Mendelssohn aus. Da er befürchtete, die französische Musiktradition könnte untergehen, gründete er die „Société nationale de musique“, was ihm den Vorwurf des Nationalismus einbrachte. Vielleicht hat die Geschichte ihn zu wenig als Mensch honoriert, weil er „Eigenwerbung“ hasste. Er war ein extrem empfindsamer, delikater, lieber und humorvoller Mann, unglaublich breitgefächert ausgebildet und ungeheuer großzügig: Allen, die in Not waren, gab er viel Geld. Er selber starb am Ende in größter Armut.
Tollite hostias, aus:
Saint-Saëns: Oratorio de Noël
CD Carus 83.352
Noten Carus 40.455
carus music, die Chor-App Carus 73.302
Seltsamerweise ist Saint-Saëns‘ Werk editorisch kaum erschlossen, viele Stücke blieben unbekannt. Seine Kirchenmusik mag auf den ersten Blick recht brav komponiert erscheinen – dies ist aber genau das, was man von ihm an der Madeleine erwartete: man kennt ja die Geschichte von Gabriel Fauré, seinem Nachfolger, der nach der ersten Aufführung seines wunderschönen Requiems (Carus 27.312) zurück in die Sakristei kam und dort vom Pfarrer beschimpft wurde („So eine Musik braucht man nicht!“). Für Saint-Saëns hatte die Form Priorität, Inspiration und Architektur sollten ständig parallel laufen. Das kleine Ave Maria in F-Dur (enthalten im Carus-Chorbuch Französische Chormusik Carus 2.311) ist ein gutes Beispiel dafür: die Musik sieht unglaublich einfach, fast schlicht aus. Doch wenn man sie in einer besonderen Akustik wie in der Madeleine mit Ruhe aufführt, entsteht der Eindruck reinster Emotion, die das Mariengebet sehr fein beschreibt. Man sollte sich auch stets die katastrophale Lage der Kirchenmusik im Frankreich des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen: Die Qualität der Musik war vielerorts erschreckend, man konnte z.B. im Gottesdienst oft Opernarien hören, schnell und ohne Sorgfalt mit geistlichen Texten versehen. Was uns vielleicht auf den ersten Blick als einfach und schlicht erscheint, ist oft dem Sehnen der Komponisten nach Reinheit geschuldet, und man kann Saint-Saëns dankbar sein, dass er einen Weg gezeigt hat, der andere Komponisten inspirieren konnte. 30 lateinische Motetten (davon viele für eine oder zwei Stimme(n)), ein Requiem (Carus 27.317), die frühe Messe (Carus 27.060), das Weihnachtsoratorium (Carus 40.455) und vier französische Cantiques formen sein geistliches Œuvre.
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