Albert Lortzing auf „erstaunlichen Wegen“
Der „Spielopernweltmeister“ als Komponist einer geistlichen Hymne
Albert Lortzing: Hymne
„Dich preist, Allmächtiger“
LoWV 5, 1822
Carus 23.005/00
Albert Lortzing mit zwei Freunden in Leipzig
aus: Die Gartenlaube Nr. 41 (1864)
Mit Autor und Dichter Carl Herloßsohn (1804-1849)
und „Bassbuffo“ Gotthelf Leberecht Berthold (1796-1851)
Unsere Lektorin Barbara Großmann gibt einen Einblick in das Leben und Werk des „Spielopernweltmeisters“.
„Genialer Theatermann“, „Erfinder der sogenannten deutschen Spieloper“: auf diese Bezeichnungen stößt man unweigerlich, wenn man Informationen zu Albert Lortzing sucht, so z.B. auf den Seiten der Albert Lortzing Gesellschaft. Die englische Seite albertlortzing.org nennt ihn einen „jack-of-all-trades in theatre and opera“: auf Deutsch ist ein „jack-of-all-trades“ ein „Tausendsassa“.
Dass ein „Tausendsassa“ bisweilen auf „erstaunlichen Wegen“ wandelt, liegt nahe. Und dies stellt Biograph Jürgen Lodemann auch im Falle Albert Lortzings fest.[1] Der Untertitel seines Buches lautet: „Leben und Werk des dichtenden, komponierenden und singenden Publikumslieblings, Familienvaters und komisch-tragischen Spielopernweltmeisters aus Berlin“ – fast eine Biographie in Kurzform. Geistliche Musik würde man in der Biographie eines „Spielopernweltmeisters“, des Komponisten von Zar und Zimmermann oder Der Waffenschmied, eigentlich eher nicht erwarten. Doch der dichtende, komponierende und singende Tausendsassa schrieb auch zwei „ernste“, geistliche Werke: im Jahr 1828 ein Oratorium mit dem Titel Die Himmelfahrt Jesu Christ und – als eine seiner ersten erhaltenen Kompositionen überhaupt – im Jahr 1822 eine geistliche Hymne auf einen Text des von Friedrich Schiller sehr geschätzten Lyrikers Friedrich von Matthisson (1761–1831).
Im Jahr 1822, als er in Elberfeld die Hymne komponierte, war Lortzing, noch gemeinsam mit seinen Eltern, Mitglied der sogenannten „ABC-Theatergesellschaft“ von Joseph Derossi, die regelmäßig in den (alphabetisch zu sortierenden) Städten Aachen, Bonn, Cöln, Düsseldorf und Elberfeld auftrat. Der 21-Jährige spielte (und sang) dabei meist die Rolle des jugendlichen Liebhabers und galt auch sonst als Schwarm der Damenwelt. Doch war er bereits verlobt mit seiner Kollegin Rosine Regina Ahles, die er 1824 heiratete. „Ohne meine Familie bin ich nur ein halber Mensch, unfähig zu allem“, schrieb Lortzing einmal an einen Freund.[2] Er sollte einmal eine große Familie mit elf Kindern zu versorgen haben (einige Kinder starben allerdings früh), er selbst war hingegen das einzige überlebende Kind seiner Eltern.
Aufgewachsen war Albert Lortzing bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Berlin. Er erlebte dort als Fünfjähriger, wie Napoleon nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt in die Stadt einzog und unter anderem die Quadriga vom Brandenburger Tor nehmen und als Kriegsbeute nach Paris verschicken ließ. Die französische Besatzung und die politischen Unruhen der Zeit trugen dazu bei, dass Lortzings Eltern 1812 aus wirtschaftlichen Gründen ihre Lederhandlung aufgeben mussten und ihr Hobby – die Schauspielerei – zum Beruf machten. Es folgten unruhige, oft schwierige Wanderjahre: nach Breslau, Bamberg, Coburg, Straßburg, Baden-Baden und Freiburg. Eine geregelte musikalische Ausbildung, wie noch in Berlin, war nicht mehr möglich, auch wenn die Eltern ihr Möglichstes taten, um den Sohn trotz aller widrigen Umstände zu fördern. Er trat bald selbst in Kinderrollen auf, rezitierte Gedichte in Vorstellungspausen und trug durch das Abschreiben von Noten zur Verbesserung des kargen Familieneinkommens bei.
In seiner Autobiographischen Skizze bezeugt Lortzing selbst: „Schon als Knabe hatte ich viele Liebe zur Musik und komponirte [sic]“,[3] u.a. vertonte er als Teenager „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller und schrieb eine „dramatische Legende“ zu August von Kotzebues „Der Schutzgeist“. Leider ist nichts davon erhalten. Dafür ist uns ein Gedicht des erst Achtjährigen überliefert, das er seinen Eltern zum Neujahrstag 1810 widmete:[4]
Ein guter Sohn und artger Knabe
erfüllt mit Freuden seine Pflicht
drum bring ich heut zur Morgengabe
ein freundliches Neujahrs:Gedicht
Ich weih es meiner Eltern Liebe,
die sorgsam wachet für mein Glück,
und wünsche gern aus reinem Triebe
mit Dankbarkeit im frohen Blick:
…
Reisen bildet. Bei den ständigen Ortswechseln seiner Jugendzeit und bei den unterschiedlichsten Begegnungen, noch dazu in einer politisch aufgewühlten Zeit, sammelte Lortzing sicherlich vielseitige Erfahrungen, die ihm später als „Spielopernweltmeister“ zugute kamen. Doch hatte er immer wieder auch die Gelegenheit, „große“ Konzerte zu besuchen, so z.B. die Rheinischen Musikfestspiele, bei denen er möglicherweise große chorsinfonische Werke wie Händels Messias oder Haydns Schöpfung kennenlernte. Ein gewisser Einfluss Haydns lässt sich auch in der 1822 komponierten Hymne nicht verleugnen, ist doch auch der thematische Ansatz ein ähnlicher wie in Haydns Oratorium: der Lobpreis der Schöpfung und ihres Schöpfers:
Dich preist, Allmächtiger,
der Sterne Jubelklang.
Dich preist, Allgütiger,
der Seraphim Gesang.
Die ganze Schöpfung schwebt
in ewgen Harmonien,
so weit sich Welten drehn
und Sonnenheere glühn.
Diese erste von drei Strophen bildet den Rahmen der Komposition und wird am Ende wiederholt. Nachträglich stellte Lortzing noch eine kurze instrumentale „Introduzione“ voran. Kennzeichnend für Lortzings Opern, und auch bereits in dieser frühen Hymne ersichtlich, ist die kleingliedrige Instrumentation.[5] Wechsel der vokalen und instrumentalen Besetzung sind für Lortzing ein bedeutendes Mittel des Textausdrucks – weit bedeutender als harmonische Finessen. Auf der Basis des Streichersatzes treten, oft nur für wenige Takte oder für ein kurzes Motiv, einzelne Instrumente oder Instrumentengruppen hinzu: effektvoll-majestätische Blechbläserklänge und Paukenwirbel bei „Dich preist, Allmächtiger“ oder ein kontrastierend-sanftes Klarinettenmotiv bei „der Sterne Jubelklang“.
Die zweite Strophe der Hymne, die die Schönheiten der Schöpfung beschreibt, ist in intimerem Charakter gehalten. Sie wird von einem Solo-Tenor gesungen und meist nur von Streichern und Holzbläsern begleitet. Die dritte Strophe über die Niedrigkeit und Endlichkeit des menschlichen Daseins und die Hoffnung auf Gottes Erbarmen ist außergewöhnlich in ihrer Besetzungsreduktion bis hin zu einem vierstimmigen a cappella-Chorsatz, besonders aber in der rhythmisch höchst prägnant und subtil unterlegten pianissimo-Textpassage „Es trennt vom Totenkreuz mich nur ein Spannenraum“. Ein Solo-Terzett mit Streicher- und Holzbläserbegleitung bringt den tröstlichen Charakter der Auferstehungshoffnung zum Ausdruck, bevor die Wiederholung der großartig-mächtigen Anfangsstrophe einsetzt.
Lortzings Opernerfahrungen und -bestrebungen zeigen sich nicht nur in stark kontrastierender Dynamik – nicht zuletzt durch differenzierte Besetzung –, sondern auch in einer ohrwurmträchtigen, oft gefälligen Melodiefindung. Aber er weiß auch polyphone Passagen wirkungsvoll einzusetzen, so z.B. fugierte Einsätze eines Solistenensembles auf den Text „So weit sich Welten drehn“. Übrigens: Einzig der Solo-Tenor ist ein „echter“ Solopart. Sopran, Alt und Bass solo singen nur in Ensembles. Hier können sich bei einer Aufführung des Werks auch gute Chorsänger*innen bewähren.
Wäre Lortzing in einer anderen Lebenssituation gewesen als in derjenigen eines reisenden Sänger-Schauspielers und wäre ihm die Möglichkeit einer fundierten musikalischen Ausbildung vergönnt gewesen: vielleicht hätte der „Tausendsassa“ viel mehr geistliche Musik geschrieben. Das Streben, sich auch der ernsten Musik zu widmen, war immer vorhanden. Vielleicht hätten wir den „Spielopernweltmeister“ auf noch viel erstaunlicheren Wegen gesehen. Das Potenzial hatte er.
[1] Jürgen Lodemann, Lortzing, Göttingen 2000, S. 56.
[2] Zitiert nach Walter Dietrichkeit, Gustav Albert Lortzing, Bad Pyrmont 2000, S. 32.
[3] Zitiert nach Irmlind Capelle, Chronologisch-thematisches Verzeichnis der Werke von Albert Lortzing (LoWV), Köln 1994, S. 15.
[4] Zitiert nach Lodemann, S. 32f.
[5] Siehe auch Ursula Kramer: „,Die Stimme der Natur‘ oder: Auf den Spuren von Lortzings musikalischem Tonfall“, in: Lortzing und Leipzig. Musikleben zwischen Öffentlichkeit, Bürgerlichkeit und Privatheit, hrsg. von Thomas Schipperges, Hildesheim u.a. 2014, S. 315–336.
Georg Friedrich Händel: Messiah (Messias)
HWV 56, 1742
Carus 55.056/00
Joseph Haydn: Die Schöpfung
Oratorium
Hob. XXI:2, 1798
Carus 51.990/00
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