Ein Klassiker in einer modernen Epoche
Camille Saint-Saëns‘ Musique religieuse
„Es gibt keine religiöse Kunst im eigentlichen Sinn, die eindeutig von der weltlichen Kunst unterschieden werden könnte. Es gibt nur gute und schlechte Musik; der Rest ist eine Frage der Mode und Konvention.“
Camille Saint-Saëns
Als Camille Saint-Saëns 1921 im Alter von 86 Jahren in Algier starb (drei Jahre nach dem Tod von Claude Debussy), hatte er gleich mehrere musikgeschichtliche Epochen und Stilwandel überlebt. Das ihm anhaftende Image des Konservativen und Traditionsbewussten konnte jedoch nicht verhindern, sondern trug eher dazu bei, dass ihn das breite kunstgenießende Bürgertum – neben dem exzentrischeren Berlioz – als einen führenden Repräsentanten der Musique française des 19. Jahrhunderts betrachtete. Seine Bedeutung gründete sich dabei nicht allein auf seine Bekanntheit als Komponist, sondern auch auf seine Funktion als Dirigent und Pianist eigener Werke sowie – in der Epoche der „symphonischen Orgel“– als Organist an Kirchen seiner Geburtsstadt Paris (Église Saint-Merri 1853–1858, Église de la Madeleine 1858–1877).
Sein Name findet sich auch an führender Stelle unter den Gründern und Mitgliedern der Société Nationale de Musique, die 1871 unter dem Postulat einer Ars gallica ins Leben gerufen worden war und die ausschließlich der Pflege neuerer französischer Musik dienen sollte. Weitere prominente Mitglieder waren Musiker wie Franck, Bizet, Lalo, Massenet und Widor. Ein moderner französischer Musikhistoriker fällt das vorsichtig abwägende Urteil:
„Es mag sein, dass Saint-Saëns kein Schöpfer allerersten Ranges gewesen ist. Doch haben einige seiner Werke bleibenden Wert durch ihre straffe klassische Form, durch den Glanz des Orchesters, das Malerische des Ausdrucks, die anmutige orientalische Färbung und die Zurückhaltung im Ausdruck von Gefühlen. Saint-Saëns ist ein vollkommener Meister der Technik gewesen, ein eleganter und klarer Geist, voll Freiheit, vielleicht allzu deutlich der Vergangenheit zugewandt, ein Klassiker in einer modernen Epoche.“
Jean Boyer
Alle Hörbeispiele aus:
Camille Saint-Saëns
Oratorio de Noël
Vocalensemble Rastatt
Les Favorites
Holger Speck
CD Carus 83.352
Ähnlich wie etwa der zeitgenössische deutsche Komponist und langjährige Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke, war sich Saint-Saëns der eklektischen Elemente in seinem Schaffen durchaus bewusst, ohne dass ihn dies (ebensowenig wie Reinecke) in seinem Schaffenspositivismus gelähmt hätte. Befruchtet wurde diese produktive, auf solidem Handwerk beruhende Stilsynthese noch durch ein starkes musikethnographisches Interesse, das ihn Reisen in die Mittelmeerländer und in den Vorderen Orient unternehmen ließ.
Saint-Saëns’ OEuvre umfasst so gut wie alle musikalischen Gattungen seiner Zeit: vier Sinfonien (darunter die bis heute vielgespielte Orgelsymphonie Nr. 3 c-Moll von 1886), mehrere Symphonische Dichtungen, Schauspielmusiken, pittoreske Orchestersuiten (wie die Suite algérienne von 1880 oder der weltweit populäre Carnaval des animaux für zwei Klaviere und kleines Orchester von 1886), fünf Konzerte für Klavier, drei für Violine, zwei für Violoncello, mehrere Oratorien, Kantaten und Motetten sowie – unabdingbar für einen französischen Komponisten von Ruf – zwölf Opern, von denen jedoch nur die 1877 unter Liszts Leitung in Weimar uraufgeführte dreiaktige Oper Samson et Dalila rasch zum Repertoirestück avancierte. Die größer besetzten Gattungen werden ergänzt durch Lieder mit Klavier- und Orchesterbegleitung, Kammer-, Klavier- und Orgelmusik sowie Transkriptionen und Bearbeitungen; musikalische Schriften, Libretti und Erinnerungen runden das Bild ab.
Camille Saint-Saëns – ein musikalisches Multitalent
Das opulente Werkverzeichnis weist auch eine Reihe französisch und besonders lateinisch textierter Kirchenmusikwerke auf: vom kurzen, oft orgelbegleiteten Chorstück bis hin zu liturgischen Großgattungen und Oratorien, die für den Komponisten allerdings mehr Gebrauchs- und Auftragswerke als Bekenntnismusik darstellten. Neben einer Messe (1856), einem Requiem (1878), zwei großbesetzten orchesterbegleiteten Vertonungen der Psalmen 18 bzw. 19 (1865) und 150 (1908) sind vor allem die drei biblischen Oratorien Oratorio de Noël, Le Déluge – Poème biblique (1875) und La Terre promise (1913) hervorzuheben. Von ihnen hat sich einzig das lateinische Oratorio de Noël einen festen Platz im (noch immer kleinen) Kanon der Weihnachtsoratorien erworben. Die Ende der 1850er Jahre konzipierte Komposition wurde 1860 abgeschlossen, kam jedoch erst am 15. Dezember 1869 in der Kirche La Madeleine zur Uraufführung. Die Druckausgabe erschien noch im Uraufführungsjahr im renommierten Pariser Verlag Durand als Opus 12 des Komponisten.
Besetzt ist das zehnsätzige, nur etwa 40 Minuten dauernde Werk mit Soli (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bass), vierstimmigem gemischten Chor, Streichquintett, Harfe und Orgel. Der obligate Orgelpart setzt ein zeittypisches „romantisches“ Instrument mit einer breiten Palette an grundtönigen Stimmen voraus. Gegenüber der durchgehenden Verwendung der Orgel kommt die Harfe – als Sondereffekt – nur in drei Sätzen zum Klingen: im Duett Nr. 5 „Benedictus, qui venit“, im Terzett Nr. 7 „Tecum principium“ (hier durchgehend mit instrumentenspezifischen Arpeggien und als einzige Instrumentalbegleitung zusammen mit der zartregistrierten Orgel) sowie am Ende des Quintetts mit Chor Nr. 9 „Consurge, Filia Sion“. Textlich bildet das Werk eine Folge weihnachtlicher Episoden mit mehr liturgischem als handlungsorientiertem Charakter. Zu Grunde liegen sowohl Abschnitte aus dem Alten als auch aus dem Neuen Testament: aus der Weihnachtsgeschichte nach Lukas, dem Johannesevangelium, den Psalmen (bzw. den darauf basierenden weihnachtlichen Messproprien), dem Propheten Jesaja und den Klageliedern (Lamentationes).
Der rein instrumentale Werkanfang hat schon immer eine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen wegen der deutlichen Reminiszenz an ein großes musikhistorisches Vorbild: Saint-Saëns beginnt mit einem ausdrücklich als Prélude dans le style de Séb. Bach apostrophierten Vorspiel. Es ist naheliegend (wenn auch nicht dokumentierbar), dass das weit ausschwingende 12/8-Pastorale in G-Dur für Streicher und Orgel mit Blick auf die Hirten-Sinfonia zu Beginn der zweiten Kantate von Bachs Weihnachtsoratorium geschrieben wurde, die in der gleichen Ton- und Taktart steht und ebenfalls vom punktierten Sicilianorhythmus geprägt ist. Saint-Saëns hatte die sogenannte Alte Bach-Gesamtausgabe subskribiert, in der kurz zuvor, 1856, Bachs Oratorium erschienen war. Dennoch ist sein Prélude keine historisierende Stilkopie, sondern ein Genrestück, das ein zeittypisches sentimentalisiertes Bach-Bild aufgreift, dem zur gleichen Zeit auch Charles Gounods später berühmte (Ave-Maria-)Méditation über das C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Clavier I entspricht. Die Thematik des pastoralen Vorspiels wird in Nr. 9 (Solistenquintett und Chor) in gleicher Tonart nochmals aufgenommen, bevor das Werk mit einem schlicht-homophonen, choralartigen Chor (mit Colla-parte-Instrumenten) in der Grundtonart G-Dur schließt.
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