„Im Freien zu Singen“ – alternative Proben- und Aufführungskonzepte

Überlegungen zu Orten und Werken

Felix Mendelsohn Bartholdy schätzte den Wald als Konzertkulisse und offenbar auch den Chorklang in freier Natur. Wie anders ist es sonst zu verstehen, dass er Chorlieder Im Freien zu Singen komponierte, wusste er doch noch nichts von Corona-Vorschriften, die Chöre gerade jetzt zum Umdenken zwingen.
Manchmal werden große Ideen aus der Not geboren. Plötzlich gewinnen Dinge an Reiz, für die es bislang gute Gründe gab, sie abzulehnen. Gerade in der Pandemie beweisen Kreativschaffende, dass mit Mut, Kraft und viel Flexibilität einiges zu bewegen ist.

Proben: Kombination aus online und (Teil)Präsenz

Bei den Chören zeigt sich beim Thema „alternative Proben- und Aufführungskonzepte“ ein disparates Bild. Einige proben seit Beginn der Corona-Krise online, andere haben sich erst Anfang 2021 dazu entschlossen, und dann gibt es welche, die bislang ganz davor zurückschrecken.
Wenn in absehbarer Zeit auf einen Schlag wieder alles normal sein könnte, bräuchten wir keine neuen Wege zu beschreiten. Es ist aber zu erwarten, dass auch dann, wenn sich die Lage bessert, Chöre sich noch eine Weile an Auflagen halten müssen.
Je länger die Pandemie andauert, desto mehr wird es nötig, digitale Optionen zu erwägen. Obwohl das nicht ohne klangliche Einbußen zu machen ist, überwiegen die Vorteile, da die Sänger*innen auf diese Weise die Verbindung mit dem Chor aufrechterhalten können und stimmlich in Übung bleiben.
Im Herbst 2020 gab es die Situation, dass Chorproben in Präsenz mit Auflagen erlaubt waren (Abstand, Teilnehmerzahl, Lüftungspausen etc.). Ein Teil der Sänger*innen hat diese Möglichkeit – zum Beispiel aus Angst vor einer möglichen Infektion – jedoch nicht wahrgenommen. Falls in nächster Zeit wieder geprobt werden darf, stellt sich möglicherweise wieder dieselbe Situation ein.

Dr. Reiner Leister ist Musikwissenschaftler und war Chorleiter in Aachen, Bornheim und Siegburg. Als Key Account Manger beim Carus-Verlag betreut er seit 2019 weltweit die Chor-Kunden.

Warum dann nicht einmal Proben gemischt „digital und in Präsenz“ planen?

Eine kleine Gruppe singt im Probenraum oder in der Kirche – die anderen kommen digital hinzu. Vorteil: Wenn auch sehr reduziert, so ist doch so etwas wie „Chorklangerlebnis“ möglich. Die Online-Teilnehmer hören die Gruppe vor Ort und singen selbst mit ausgeschaltetem Mikrophon dazu. Dadurch lässt sich auch das Problem der Verzögerung, das durch die unterschiedliche Datengeschwindigkeit der einzelnen Online-Teilnehmer entsteht, umgehen. Alle, die online dabei sind, hören nur das Präsenz-Ensemble und sich selbst. Ob die Internetverbindung das eigene Singen langsamer transportiert als das der Mitsänger*innen, fällt auf diese Weise nicht ins Gewicht. Das ist immer noch weit von einem „normalen“ Probenerlebnis entfernt, aber eine Verbesserung gegenüber einer reinen Online-Probe. Gleichzeitig ermöglicht es den Mitgliedern, die aus einer gewissen Vorsicht heraus nicht in die Gruppe kommen möchten, teilzunehmen.

Aufführungen: Vielseitigkeit der Konzertorte

Auch bei den Aufführungen ist davon auszugehen, dass der gewohnte, auflagenfreie Rahmen noch eine Weile auf sich warten lässt. Alternativen sind gefragt, weil Chöre schlicht das regelmäßige Konzertieren als Ziel der Probenarbeit brauchen.
Damit das chorische Singen schneller wieder in Fahrt kommt, lohnt es sich, für Open-Air-Aufführungen zu werben. Temperatur- und witterungsabhängig sind Open-Air-Veranstaltungen bis in den Herbst hinein möglich. Bei der Frage nach den geeigneten Orten geht es darum, lokale Besonderheiten zu finden und auszunutzen. Vom Kreuzgangkonzert mit abendfüllendem Programm bis zum Liedersingen zur Marktzeit gibt es ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Wenn auch nicht überall, so finden sich doch in vielen Städten und Gemeinden interessante Orte, die für Veranstaltungen in Frage kommen.

figure humaine kammerchor

Hier eine Auflistung von Orten, die von verschiedenen Chören schon erprobt sind:

  • historische Bauten wie Wandelhallen oder andere halbüberdachte Kurpark-Einrichtungen
  • Kreuzgänge von Kirchen
  • Innenhöfe von Klöstern, Burgen, Burgruinen, Schlössern
  • Innenhöfe von städtischen Gebäuden, so auch von Krankenhäusern oder großen Seniorenheimen
  • Außenanlagen von Gemeindezentren
  • Parkanlagen mit z.B. amphitheaterähnlich angeordneten Steinstufen
  • Freilichtbühnen
  • Parkhäuser/Parkdecks (akustisch interessant und überdacht)
  • „Bahnhofskonzerte“
  • Private Gärten / Gartenkonzerte
  • Liederwanderungen als Mitsingaktion („Singend durch den Wald“)
  • Picknick-Konzerte
  • Waldkonzerte

Die Rundfunkchöre bieten zurzeit in regelmäßigen Abständen Konzerte als Videostream an. Prinzipiell ist diese Idee auch auf einen kleineren Rahmen zu übertragen. Gerade für Chöre, die ihr Publikum weitgehend selbst generieren können, zum Beispiel über die Vereinsstrukturen oder im Rahmen einer Kirchengemeinde, kann das ebenfalls ein interessantes Alternativmodell sein, bei dem ein Ausprobieren zu einem schönen Erlebnis führt.

Repertoire: Werke wie gemacht für Open-Air

In der Liste der Open-Air-Locations kommen Aufführungsorte in der Natur sehr häufig vor. Besonders schön ist es natürlich, wenn das Programm eine Brücke schlägt und sich die Situation im Freien auch in den Themen der Stücke wiederfindet.

Zu allen Zeiten haben sich die Komponisten von der Natur inspirieren lassen und dadurch besondere Werke geschaffen. Auch in der Chorliteratur finden sich wunderschöne Stücke, deren Aufführung an der frischen Luft besonders naheliegend ist.

Der leidenschaftliche Spaziergänger Antonín Dvořák , der in den frühen Morgenstunden an den Bachläufen den Vögeln zuhörte und von der Atmosphäre des Waldes nie genug bekommen konnte, hat unter dem Titel In der Natur fünf Chorlieder veröffentlicht (op. 63, Carus 40.252/00), in denen er sein Naturempfinden musikalisch umsetzte. Nur 3 Jahre nach diesen Chorliedern hat er unter dem gleichen Titel In der Natur auch eine Konzertouvertüre herausgebracht (op. 91). Die Natur war für ihn ein lebenslanges Lieblingsthema. Dvořák beschreibt sie auch in Stücken, in denen er nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hat.

In der herrlichen Lage des Appenzeller Kurorts Heiden baute sich Heinrich von Herzogenberg als Sommerresidenz sein Haus „Abendroth“, um dort, umgeben von Feldern und Wäldern, zu komponieren. An Mutter Natur ist eines seiner reizvollsten Chorlieder. Zu finden ist es in der Sammlung „Heinrich von Herzogenberg, Weltliche Chormusik a cappella und mit Klavier“ (Carus 4.102/00). Die Sammlung ist eine Fundgrube an Stücken rund um das Thema Natur.

Ganz besonders interessiert an Aufführungen in der Natur war Felix Mendelsohn Bartholdy. Von ihm ist überliefert, dass er mit seinen Chören in den Wald gegangen ist, um dort zu singen. Er war der Meinung, dass gerade seine Chorlieder – gleichsam im Einklang mit der Natur – dort am besten verortet sind und deshalb hat er sie mit dem Zusatz Im Freien zu singen veröffentlicht (Carus 40.221/00, 40.222/00, 40.223/00, 83.287).
In einem Brief an seine Mutter beschreibt er sein Empfinden bei einer solchen Aufführung: „Wie lieblich da der Gesang klang, wie die Sopranstimmen so hell in die Luft trillerten, und welcher Schmelz und Reiz über dem ganzen Tönen war, alles so still und heimlich und doch so hell – das hatte ich mir nicht vorgestellt. Es war ein Chor von etwa 20 guten Stimmen, aber bei einer Probe im Zimmer hatte manches gefehlt, und alles war unsicher gewesen, wie sie sich den Abend unter die Bäume stellten, und mein erste[s] Lied‚ ihr Vöglein in den Zweigen schwank‘ [op. 41 Nr. 1] anhoben, da war es in der Waldstille bezaubernd, daß mir beinah die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es.“
Und so kann sogar die Corona-Krise ein Impulsgeber sein. Wir erinnern uns daran, was ein großer Komponist wie Felix Mendelsohn Bartholdy so schätzte und entdecken vielleicht selbst den Reiz von Proben und Aufführungen in bisher wenig genutztem spannenden Terrain.

Werke im Freien zu singen

Dvorák: In der Natur. Fünf Chorlieder op. 63

Dvorák in der NaturÜber dem so scheinbar einfachen Satz der Chorlieder op. 63 liegt eine Stimmung, deren Ausdrucksintensität und Nuancenreichtum zeigt, dass Dvorák auch hier es verstand mit relativ bescheidenen Mitteln ein sehr persönliches und wirkungsvolles Werk zu schreiben.

Herzogenberg: Weltliche Chormusik a cappella und mit Klavier

Heinrich von Herzogenberg Weltliche Chormusik Neben seinen bekannteren geistlichen Vokalwerken hat Heinrich von Herzogenberg auch zahlreiche Werke im Bereich der weltlichen Chormusik verfasst, die unter anderem von Joseph Joachim und Philipp Spitta hoch geschätzt wurden. Die Beiträge dazu für Chor a cappella bzw. mit Klavierbe­gleitung werden hier erstmals in einer Sammeledition für die Chorpraxis erschlossen.

Mendelssohn: Im Freien zu singen (Heft 1)

„Im Freien zu singen“ schrieb Mendelssohn aufs Titelblatt seiner ersten Sammlung weltlicher Chorlieder. „Open Air“ wird hier zur historischen Aufführungspraxis. Im Juli 1839 zog Mendelssohn mit Chorfreunden tief in den Wald und schwärmte danach: „Es war ein Chor von etwa 20 guten Stimmen, aber bei einer Probe im Zimmer hatte manches gefehlt, und alles war unsicher gewesen, wie sie sich den Abend unter die Bäume stellten, und mein erste[s] Lied ‚ihr Vöglein in den Zweigen schwank‘ [op. 41 Nr. 1] anhoben, da war es in der Waldstille bezaubernd, daß mir beinah die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es.“

Mendelssohn: Im Freien zu singen (Heft 2)

„Im Freien zu singen“ schrieb Mendelssohn aufs Titelblatt seiner ersten Sammlung weltlicher Chorlieder. „Open Air“ wird hier zur historischen Aufführungspraxis. Im Juli 1839 zog Mendelssohn mit Chorfreunden tief in den Wald und schwärmte danach: „Es war ein Chor von etwa 20 guten Stimmen, aber bei einer Probe im Zimmer hatte manches gefehlt, und alles war unsicher gewesen, wie sie sich den Abend unter die Bäume stellten, und mein erste[s] Lied ‚ihr Vöglein in den Zweigen schwank‘ [op. 41 Nr. 1] anhoben, da war es in der Waldstille bezaubernd, daß mir beinah die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es.“

Mendelssohn: Im Freien zu singen (Heft 3)

„Im Freien zu singen“ schrieb Mendelssohn aufs Titelblatt seiner ersten Sammlung weltlicher Chorlieder. „Open Air“ wird hier zur historischen Aufführungspraxis. Im Juli 1839 zog Mendelssohn mit Chorfreunden tief in den Wald und schwärmte danach: „Es war ein Chor von etwa 20 guten Stimmen, aber bei einer Probe im Zimmer hatte manches gefehlt, und alles war unsicher gewesen, wie sie sich den Abend unter die Bäume stellten, und mein erste[s] Lied ‚ihr Vöglein in den Zweigen schwank‘ [op. 41 Nr. 1] anhoben, da war es in der Waldstille bezaubernd, daß mir beinah die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es.“

Mendelssohn: Im Freien zu singen / Bernius

Felix Mendelssohn Bartholdy und Frieder Bernius – diese Namen werden häufig in einem Atemzug genannt. Bernius’ vielfach preisgekrönte Gesamteinspielung der geistlichen Vokalmusik Mendelssohns mit dem Kammerchor Stuttgart stellt eine interpretatorische und editorische Großtat dar und hat wesentlich zur heute selbstverständlichen Präsenz des gesamten Mendelssohn’schen Œuvres im Konzertrepertoire beigetragen. Anlässlich seines 70. Geburtstages im Juni 2017 legte Bernius mit den „Liedern im Freien zu singen“ in gewohnt hoher Qualität nun auch eine Einspielung der wohl bekanntesten weltlichen Chorlieder aus der Feder Mendelssohns vor.

2 Kommentare
  1. Konrad Dudszus
    Konrad Dudszus sagte:

    Danke für die verschiedenen Anregungen draußen zu proben. Wir dürfen als Gospel-Chor der Ev. Kirche Hessen-Nassau aber momentan nur im Zusammenhang mit Gottesdiensten proben – und nur mit sehr kleiner Besetzung leider selbst bei Gottesdiensten im Freien – auftreten.
    Wir durften dann deutlich mehr SängerInnen sein, wenn wir nur „für die Kamera“ ohne Zuhörer! im Freien gesungen haben und das später im Rahmen eines Online-Gottesdienstes ausgestrahlt wurde. Das ist dann so ein bisschen wie die Wahl zwischen der Pest und der Cholera. Aber wir nutzen jede noch so kleine Chance selbst in kleiner Besetzung live zusammenzusingen neben den wöchentlichen Videoproben – denn unsere Kirche ist leider online nicht so gut angebunden, dass wir darüber hinaus eine Live-Probe mit wenigen SängerInnen im Freien bei der Kirche direkt in die Wohnzimmer der anderen Chormitglieder übertragen könnten…

    Antworten
    • Marion Beyer
      Marion Beyer sagte:

      Lieber Herr Dudszus, dass Ihr Chor trotz der noch geltenden Beschränkungen nicht aufgibt, sondern die – wenn auch nur kleinen – Chancen zum Proben und Aufführen wahrnimmt, tut gut zu lesen. Als Signal ist es doch wichtig und ermutigend, auch in Mini-Besetzung zusammen zu singen. Diejenigen, die nicht mitmachen könnnen oder wollen, bekommen mit, dass manche eben trotzdem weitermachen. Das ist wichtig. Und den Aktiven macht es Spaß.
      Wir wünschen Ihnen weiterhin ein gutes Durchhalten, denn ein Ende zumindest der jetzigen Situation ist ja in Sicht. Ihr Carus-Verlag

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