Carissimi Handel

Carissimi, Händel und ein verhängnisvolles Gelübde

Zwei Vertonungen der alttestamentlichen Geschichte von Jephta

Was mag zwei große Barockkomponisten bewogen haben, die grausige Erzählung von Jephta und seiner Tochter zu vertonen – eine Geschichte aus dem Alten Testament, die mit einem Menschenopfer endet?

Sie steht im Buch der Richter im 11. Kapitel: Der Feldherr Jephta leistet Gott vor einer großen Schlacht den Schwur, dass er ihm im Fall eines Sieges das zum Opfer bringt, was ihm als erstes aus seinem Haus entgegenkommt, wenn er aus dem Krieg heimkehrt. Das leichtsinnige Gelübde hat böse Folgen, denn als erste tritt ihm seine einzige Tochter entgegen. Der biblische Bericht schließt unversöhnlich: Die junge Frau muss sterben.

Die Erzählung hat in der Auslegungsgeschichte der Bibel Kontroversen ausgelöst, da Gott anders als im Fall von Abraham und Isaak nicht eingreift und das Menschenopfer verhindert. Ein ähnlicher Fall ist aus der griechischen Mythologie bekannt: Agamemnon soll seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis opfern. Laut einem Überlieferungsstrang wird das Opfer vollzogen, doch in der berühmten griechischen Tragödie von Euripides (entstanden 408 bis 406 v. Chr.) wird Iphigenie von der Göttin gerettet. Die griechische Tragödie an sich und gerade dieser Stoff wurden in der Renaissance künstlerisch intensiv rezipiert, was interessanterweise dann auch für den Jephta-Stoff zu beobachten ist.

Dass sich der tragische Held seines Volkes, der in den Verstrickungen zwischen Gottesgelübde und Liebe zu seiner Tochter verzweifelt, zur Ausgestaltung eines religiösen Dramas eignet, verwundert nicht, und damit war er auch prädestiniert für die neue musikalische Gattung, die um 1600 ihren Ursprung in Rom nahm und die beiden oben genannten Barockkomponisten berühmt machen sollte: das Oratorium.

Giacomo Carissimi (1605–1674) ) gehört zu den frühesten  Komponisten von Oratorien überhaupt. Seit Ende 1629 wirkte er als Lehrer und Musikdirektor am berühmten Collegium Germanicum et Hungarum, einem Priesterseminar im Rom, das 1552 von den Jesuiten gegründet worden war, um im Zuge der Gegenreformation Studenten aus dem Heiligen Römischen Reich auszubilden. Auch das Oratorium als Gattung war im Gefolge der Gegenreformation in Rom entstanden. Die Anfänge sind in den Versammlungen der Oratorianer zu finden, einer römischen Bruderschaft, die Philipp Neri 1575 gegründet hatte und die zahlreiche Nachahmer fand. Im Rahmen der beliebten geistlichen Übungen dieser Bruderschaften konnte sich die neue Gattung aus zahlreichen Vorformen (dialogischen Motetten u.ä.) ausbilden. Carissimi trug als Musikdirektor am Kolleg der Jesuiten entscheidend dazu bei.

Carissimi hat in Rom 10 bis 13 lateinische und einige italienische Oratorien komponiert, die er selbst oft noch als Motetten oder Historien bezeichnet. Die Historia di Jephte (Carus 10.043) entstand in den 1640er Jahren; der genaue Zeitpunkt oder der Aufführungsort sind leider nicht bekannt, und auch das Autograph ist verloren. Erhalten haben sich aber zahlreiche Abschriften des Werkes, die von seiner Bedeutung und Bekanntheit Zeugnis ablegen. Eine Abschrift – die heute als die authentischste gilt – fand den Weg nach Frankreich, und zwar über Carissimis Schüler Marc-Antoine Charpentier, der seinerseits zahlreiche „Historien“ schuf. Weitere Verbreitung fand Jephte auch dadurch, dass Athanasius Kircher 1650 den Schlusschor in seiner Musurgia universalis als Musterbeispiel für Carissimis Stil abdruckte. Trotz des wachsenden Ruhms als Komponist verharrte Carissimi zeitlebens an seinem Jesuitenkolleg, obwohl wir von mehreren attraktiven Angeboten wissen, die ihn nach Venedig oder Brüssel geführt hätten.

1707 kam der junge Lutheraner Georg Friedrich Händel nach Rom. Unter dem Patronat des Marchese Ruspoli lernte er die Kirchenmusik der Papststadt kennen, komponierte für die Kardinäle Pamphili, Ottoboni und Colonna Kantaten und Psalmen und brillierte in Adelshäusern auf dem Cembalo. Er lernte auch Scarlatti kennen, der möglicherweise noch Schüler von Carissimi gewesen war. Und er schuf eigene Oratorien: Il Trionfo del Tempo e del Disinganno (1707) und La Resurrezione (1708) – das letztere wurde unter Corellis Leitung uraufgeführt. Doch da Opernaufführungen in Rom verboten waren, hielt es Händel nicht lange in Rom. 1710 zog er mit Unterstützung des Hauses Hannover erstmals nach England, wo er als Komponist italienischer Opern und Kirchenmusik große Erfolge feierte und ab 1713 sesshaft wurde. Er komponierte nicht nur rund 30 Opern, sondern begründete in England die Gattung des dort noch unbekannten Oratoriums, das er vor allem in der opernfreien Fastenzeit in Londoner Opernhäusern präsentierte.

Historia di Jephte
Giacomo Carissimi
Carus 10.043

In nativitate Domini nostri Jesu Christi canticum
Marc-Antoine Charpentier
Carus 21.002
Jephtha
Georg Friedrich Händel
Kammerchor der Frauenkirche
Dresdner Barockorchester
Matthias Grünert
Alexander’s Feast
Georg Friedrich Händel
HWV 75, 1736/1751

Dass Carissimis Chorstil Einfluss auf Händels Oratorienstil hatte, ist nachgewiesen und reicht sogar so weit, dass Händel in seinen Oratorien aus Werken Carissimis zitierte. Der Chor „Hear, Jacob’s God“ aus Samson (1742/1743, Carus 83.425) ist dem Schlusschor aus Carissimis Jephte („Plorate filii“) nachgebildet, und auch in Alexander’s Feast (1736, Carus 55.075) zitiert Händel aus Jephte: diesmal die berühmte Klage des Jephta „Heu mihi“. Gegen Ende seines Lebens komponierte Händel dann selbst ein Oratorium über Jephta (1751).

Natürlich ist Händels Jephtha (Carus 83.422) ganz anders als das mehr als 100 Jahre ältere, kurze und nur mit Continuo besetzte Werk des Römers, aber beide Komponisten schöpften das musikalische Potenzial der dramatischen Geschichte mit ihren Kriegsberichten, Triumphgesängen und Klageliedern mit den musikalischen Mitteln ihrer Zeit voll aus. Die Geschichte aber endet beim Lutheraner und Opernkomponisten Händel anders als beim Jesuiten Carissimi. Sie endet nicht mit der Klage über den Tod der Tochter Jephtas, sondern hängt noch ein „Happy End“ an: Wie ein „Deus ex machina“ erscheint ein Engel und rettet die Tochter vor den Folgen des verhängnisvollen Gelübdes ihres Vaters.

Dr. Barbara Mohn ist seit 1994 Lektorin im Carus-Verlag; von 2000 bis 2008 leitete sie dort die Editionsstelle der Rheinberger-Gesamtausgabe.

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