Spannung, die unter die Haut geht

Dr. Uwe Wolfs Lieblingsstück ist Schütz‘ spannungsvolle „Anima mea liquefacta est“.

Was für eine Musik! Man glaubt die Spannung kaum aushalten zu können! Seit unser Cheflektor Uwe Wolf die beiden zusammengehörigen Stücke für zwei Tenöre, zwei Zinken und Continuo vor über 30 Jahren zum ersten Mal (von einer Schallplatte!) gehört hat, faszinieren sie ihn wie kaum eine andere der so vielen tollen Kompositionen von Heinrich Schütz…

Was für eine Musik! Man glaubt die Spannung kaum aushalten zu können! Seit ich die beiden zusammengehörigen Stücke für zwei Tenöre, zwei Zinken und Continuo vor über 30 Jahren zum ersten Mal (von einer Schallplatte!) gehört habe, faszinieren sie mich wie kaum andere der ja so vielen tollen Kompositionen von Heinrich Schütz. Inzwischen habe ich sie unzählige Mal in den unterschiedlichsten Einspielungen gehört und einige Male auch selbst musiziert, und noch immer geht diese Musik bei mir direkt unter Haut! Besonders der Schluss des zweiten Teils hat es in sich. Nach einem rezitativischen Teil, der mit einer Generalpause abschließt, erklingen zwei Tutti-Takte zu dem Wort „quia“ („dass“), die geradezu ein Tor aufzustoßen scheinen: Es fühlt sich plötzlich an wie großbesetzte Musik, doch sind es immer noch vier Stimmen mit Basso continuo. Nach einer weiteren Generalpause geht die Musik zu den Worten „quia amore langueo“ („dass ich vor Liebe krank liege“) in einem imitierenden, mit Dissonanzen geradezu gespickten Klagegesang über. Doch trotz der ineinander geschachtelten Vorhalte klingt nichts „schief“, aber die erzeugte Spannung ist schier nicht zum Aushalten.

Schütz ließ das Satzpaar im September 1629 in den Symphoniae sacrae I in Venedig drucken, wo er sich seit einem knappen Jahr aufhielt. In Handschriften hat sich eine ähnlich besetzte, frühere Fassungen der Komposition erhalten. Manches aus der der Frühform erkennt man in der gedruckten Form wieder, und doch liegen Welten dazwischen. Auch der dissonante Schlussteil (und die wirkungsvollen Generalpausen) fehlen. Hier spüren wir ganz direkt etwas von der Begegnung Schützens mit der neuen venezianischen Musik, die sich seit seiner ersten Venedig-Reise „sehr geendert … und itzo merklichen verbessert“ habe – und in der jetzt Claudio Monteverdi den Ton angab.

Dr. Uwe Wolf ist als Musikwissenschaftler vor allem im 17. und 18. Jahrhundert zuhause. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von der Zeit Monteverdis und Schütz über Bach und die Generation der Bach-Söhne und -Schüler bis hin zur Wiener Klassik. Seit Oktober 2011 leitet er das Lektorat des Carus-Verlags. Zuvor war er über 20 Jahre in der Bach-Forschung tätig.

Heinrich Schütz: Anima mea; Adiur vos, filiae Hierusalem

Schütz: Anima mea

Schütz: Symphoniae Sacrae I. Complete recording, Vol. 14 (Rademann)

Heinrich Schütz - Symphoniac Sacrae IZeit seines Lebens war Heinrich Schütz auf der Suche nach dem Neuen in der Musik. Auch die 1629 vorgelegten Symphoniae Sacrae I belegen das. Komponiert hat Schütz sie unter dem Eindruck seiner zweiten Venedig-Reise. Neben zahlreichen italienischen Stilmitteln Monteverdischer Prägung beeindruckt in den 20 Konzerten in lateinischer Sprache vor allem die Mannigfaltigkeit der Klangfarben.

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