Hinaus aufs Meer

Der Seemannsabschied, den Fauré in „Les berceaux“ vertonte, trifft Isabelle Métrope in ganz besonderer Weise

Es ist ein sehr emotionaler Moment, den Fauré mit seinem Lied „Les berceaux“ atmosphärisch eingefangen hat: Die Schiffe verlassen den Hafen,  Seemänner werden von ihren Familien getrennt. Die musikalische Umsetzung von Trennungsschmerz und Einsamkeit, eingebettet in fortwährendes Meeresrauschen, berührt Isabelle Métrope sehr persönlich, denn wenn sie das Kunstlied oder das Chorarrangement von Denis Rouger singt, sieht sie den Hafen ihrer Kindheit vor sich, von dem aus ihr Großvater oft aufs Meer fuhr. Und sie ist überzeugt: Auch ohne persönlichen Bezug wird man das stimmungsvolle Arrangement lieben!

Schon bei den ersten Takten spürt man im Klavierklang den unerschütterlichen Rhythmus des Meeres. Dann erhebt sich die Solostimme (im Arrangement die Sopran-Stimmgruppe), allein, aber warm und wie auf dem Meer singend. Sie beschreibt, wie sich die großen Schiffe (und die Seemänner) im Hafen im Winde sanft bewegen, ohne einen Blick auf die einsam stehenden Frauen zu werfen, die am Land stehen und ihre kleinen Kinder im gleichen Rhythmus wiegen. Im Originalstück wird nach diesem beschreibenden Teil der Umfang der Solostimme größer, wenn die Geschichte beginnt. Eines Tages wird nämlich dieses beinahe-Stillleben nicht mehr stillstehen, wenn die Schiffe den Hafen verlassen werden. An jenem Tag werden die Männer, vom Abenteuer gelockt, ihre weinenden Frauen zurücklassen.

In der Fassung für gemischten Chor verlässt genau hier die Musik die Solobesetzung, und wie das große Meer Schiffe und Männer empfängt, fächern sich die Stimmen auf. Sowohl die aufführenden Chorsänger*innen als auch die Zuhörer*innen werden von einem warmen, größeren und harmonisch spannungsvolleren Klang umwoben. Auch das Meer – hier die Klavierbegleitung – wird in dem Moment bewegter, klangreicher und drängender. Das Klavier bleibt auch nach Ende der lauten, längsten Phrase des Chores ein paar Töne länger bewegt und klangvoll, bis sich aber die Empfindung wieder verändert, zurück zur Einsamkeit: An diesem Tag verlassen die großen Schiffe mit ihrer Besatzung nicht ganz unbekümmert den Hafen. Sie spüren, wie ihre Körper vom Land quasi zurückgehalten werden, von einer unsichtbaren Kraft. Dieses Mal werden vielleicht nicht (nur) die Frauen bei der Trennung weinen. Die kleinen Wesen, die im Arm der Frauen gewogen werden, halten allein durch ihr Dasein und ihre Seele die Seele der Männer zurück. Wie sich die Schiffe entfernen und dieser unsichtbare Faden dünner und stärker wird, so versammeln sich die fünf Chorstimmen wieder und verschwinden beim letzten Ton (vier Stimmen unisono und nur der Tenor eine leise Terz singend) wie ein Punkt am Horizont. Es bleibt, immer noch unerschütterlich, der Rhythmus des Meeres.

Dieses wunderschöne Kunstlied von Gabriel Fauré ist mir besonders wichtig. Mein Großvater war Seemann, einer meiner Urgroßväter auch. Wie oft blieb er monatelang von seiner Familie fern. Wie oft stand meine Großmutter selbst am Hafen mit der Wiege. Wenn ich dieses Lied singe, ob solistisch mit einem Freund am Klavier, oder ob als Mitglied im kammerchor figure humaine, dessen Leiter Prof. Denis Rouger es auf so wunderbare Art für Chor bearbeitet hat, habe ich im Kopf die Bilder des Hafens meiner Kindheit.

Aber selbst ohne einen persönlichen Bezug zu dieser kurzen Geschichte werden Sie dieses Stück lieben. Schenken Sie Ihrem Chor (und Ihrem Publikum) mit dieser Bearbeitung drei Minuten Emotionen und studieren Sie diese Melodie ein. Legato, Klangfarbe, Stimmsitz durch französische Vokale: Viele gesangstechnische Baustellen Ihres Chores können Sie anhand dieses Stückes mit Freude angehen. Und sollten Ihre Sänger*innen unwiderruflich von diesem Repertoire verzaubert werden, finden Sie bei Carus noch mehr französischen Melodien von Fauré, Duparc, Gounod u.a., die Denis Rouger für gemischten Chor bearbeitet hat. Natürlich können diese Stücke zusammen ein französisches Konzertprogramm ergeben, aber die behandelten Themen – Liebe, Schmerz, Natur… – sind überall in der Musik zu finden und demnach einfach einem anderen Programm hinzuzufügen.
Bon voyage…

Isabelle Métrope ist Sängerin, Chorleiterin, Musikredakteurin und Übersetzerin. Sie singt im kammerchor figure humaine, im Kammerchor Stuttgart und im Ensemble Cythera.

Chorarrangements von Denis Rouger

Fauré / Rouger: Les Berceaux

Das Kunstlied wurde ursprünglich nicht für Kammerchor, sondern für eine Solostimme und Klavier geschaffen. Denis Rouger hat es behutsam den Bedürfnissen und Ausdrucksmöglichkeiten eines größeren Ensembles angepasst, ohne dabei die Qualitäten des Originals zu verleugnen.

CD: Kennst du das Land... (figure humaine)

Auf ihrer ersten CD „Kennst du das Land …“ präsentiert das Ensemble figure humaine unter der Leitung von Denis Rouger französische sowie deutsche Sololieder in Bearbeitung für Chor.

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