Im Schatten
Mit seinem Lieblingsstück „Nachtreigen“ möchte Eberhard von Oppen Fanny Hensel seine Anerkennung zollen.
Fanny Hensel, Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, stand lange im Schatten ihres Bruders. Dies gründet sich jedoch nicht auf ihren kompositorischen und pianistischen Leistungen. Als Frau sollte sie in den Augen von Vater und Bruder nicht komponieren, sondern sich um den Haushalt kümmern. Während die Komponistin viele Werke nicht selbst veröffentlichte, ist heute der größte Teil ihrer Musik verlegt. Das folgend von Eberhard von Oppen vorgestellte Nachtreigen ist die Vertonung eines Gedichts Fannys zukünftigen Ehemanns und zeigt ihre beachtliche Fähigkeit zu kunst- und wirkungsvoller Chormusik.
„Liebste Fenchel!“ – unter diesem Titel erschien vor wenigen Jahren die jüngste der einfühlsam-literarischen Musiker-Biographien des Schriftstellers, des großen Musikfreundes und -kenners Peter Härtling: Nicht etwa das Gemüse ist gemeint, sondern – Fanny Hensel (1805–1847), die mit diesem Kosenamen von ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy in seinen Briefen liebevoll angeredet wurde.
Die Geschwister, Enkel von Moses Mendelssohn, zeigten beide schon früh ganz außerordentliche, wohl ziemlich ebenbürtige künstlerische Begabungen, bekamen die gleichen Lehrer und Anregungen, pflegten ihr Leben lang engsten Austausch – doch während Felix seinen Weg als erfolgreicher Berufsmusiker gehen konnte, musste sich Fanny darauf festlegen lassen, dass für sie die Musik – nach den Worten ihres Vaters – „nur Zierde, niemals Grundbaß“ sein dürfe bei ihrem „eigentlichen, einzigen Beruf eines Weibes“ als Hausfrau. Dahinter stand vor allem das Bestreben der um Assimilation bemühten jüdisch-christlichen Familie, die bürgerlichen Gesellschaftsnormen des 19. Jahrhunderts in Preußen so vollkommen wie nur möglich zu erfüllen.
So durfte Fanny ihre Fähigkeiten als phänomenale Pianistin, als Dirigentin und Komponistin nur im Rahmen der berühmten privaten „Sonntagsmusiken“ im Hause Mendelssohn einsetzen; als Chorsängerin sang sie in Zelters „Singverein“, wirkte mit bei Uraufführungen ihres Bruders, auch bei der Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion 1829. Einer Veröffentlichung ihrer über 400 (!) Kompositionen – Klavierstücke, Kammermusik, Lieder, Duette, Chöre, Kantaten, sogar ein großes Oratorium, das manches aus dem Paulus vorwegnahm – standen der Vater und Bruder Felix bei aller künstlerischen Anerkennung äußerst ablehnend gegenüber; erst kurz vor ihrem frühen Tod 1847 erschienen einige wenige Werke im Druck. Dass sechs ihrer Sololieder innerhalb von Felix‘ Liedern op. 8 und op. 9 erschienen, also unter seinem Namen, war für Fanny unter diesen komplizierten Umständen wohl durchaus eine Anerkennung. (Übrigens fand der Bruder nichts dabei, 1835 das Klavierkonzert op. 7 der jungen Clara Wieck öffentlich uraufzuführen.) Die künstlerisch durchaus selbstbewusste Fanny Hensel beklagte einmal in einem Brief ironisch ihre „elende Weibsnatur, die man auf jedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekömmt.“
Erst in unserer Zeit wurde ein größerer Teil von Fanny Hensels Musik verlegt; es gibt heute sogar ein Werkverzeichnis. Im Carus-Programm findet sich – gegenüber dem geistlichen Gesamtwerk und etlichen weltlichen Chören des Bruders Felix – eine CD mit dem genannten Oratorium und eine einzige, von Ulrike Schadl edierte Notenausgabe, die bezeichnenderweise, aber – wie ich finde – sehr zu Unrecht im Schatten steht; daher möchte ich sie einmal ganz bewusst als eines von so manchen Außenseiter-Werken besonders ins verdiente Licht rücken.
Im Sommer 1829 schrieb Fannys künftiger Ehemann Wilhelm Hensel, ein bedeutender Maler, Zeichner und begabter Hobby-Poet, der ihre Talente übrigens vorbehaltlos förderte (von dem auch das unten auf der CD abgebildete Portrait seiner Frau stammt), ein zeittypisches Gedicht über die Nacht, den Ideal-Ort der Romantik. Sie vertonte es für ihn als Geburtstagsüberraschung, nachdem sie es als angeblich unkomponierbar bezeichnet hatte. Diese Vertonung zeigt ihre beachtliche Fähigkeit zu kunst- und wirkungsvoller Chormusik: Nachtreigen ist eine erstaunliche A-Cappella-Komposition von über 200 Takten, metrisch und harmonisch geschickt gegliedert; sie stellt zunächst je vier Frauen- und Männerstimmen einander im Wechsel gegenüber, fügt sie allmählich ineinander und steigert sie schließlich nach einem gekonnten Fugato zu klang- und prachtvoller Achtstimmigkeit. Dass Fanny zu Beginn sehr wahrscheinlich bewusst das Allegro-Thema aus Felix‘ zur gleichen Zeit entstehendem Streichquartett op. 12 zitiert, beleuchtet wiederum die künstlerische Symbiose der Geschwister. Die originelle Chor-Teilung deutet Hensels Text mit etwas Augenzwinkern so, dass die lärmenden Männer schließlich der klugen Mahnung der Frauen, die Ruhe der Nacht nicht zu stören, einsichtig folgen. Fazit: Auch für einen (guten) Laienchor eine bereichernde Möglichkeit, einer von Konventionen, auch von einem frühen Tod tragisch benachteiligten Komponistin verdiente, späte Anerkennung zu geben.
Eberhard von Oppen kam nach Lehre (Musikalienhändler) und Studium (u.a. Geschichte, Musikwissenschaft) 1987 zu Carus und ist heute meist am Kundentelefon (kennt daher mehr Stimmen als Gesichter). Er braucht das Chorsingen zum Wohlfühlen und als praktische Ergänzung zur Arbeit im Verlag.
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