Abseits des Bekannten
Weihnachtsrepertoire von Rolle bis Respighi
Die Advents- und Weihnachtszeit ist immer auch eine Zeit der Musik! Unangefochtene Nummer eins der Weihnachtskonzerte ist zweifellos das Weihnachtsoratorium (Carus 31.248) von Johann Sebastian Bach, aber auch dieses möchte man freilich nicht jedes Jahr musizieren. So gibt es daneben immer eine erfreulich große Nachfrage nach anderen, attraktiven Stücken für die Weihnachtszeit – und das macht diese auch zu einer Festzeit für den Programmverantwortlichen eines Musikverlags: Er kann aus einer immensen, kaum überschaubaren Menge an überlieferter Weihnachtsmusik schöpfen und darauf vertrauen, dass interessante Kompositionen abseits des allseits bekannten Repertoires gerne aufgenommen werden.
So findet sich im Carus-Programm Weihnachtsrepertoire ganz unterschiedlicher Art. Zwei größere Werke nehmen sich des Hirtensujets an und stehen damit in einer langen und vielgestaltigen Tradition, der z. B. die 2. Kantate aus Bachs Weihnachtsoratorium ebenso angehört wie Die Freude der Hirten über die Geburt Jesu (Carus 37.105) von Gottfried August Homilius.
Ein gutes halbes Jahrhundert nach Homilius, im Februar 1765 wurde in Schwechat bei Wien Joseph Leopold Eybler geboren. Carus legt Eyblers Weihnachtsoratorium Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem erstmals in einer Druckausgabe vor (Carus 97.007). Den Freund und Schüler Mozarts und Haydns kennt man heute fast nur noch als den Ersten, den Mozarts Witwe mit der Vollendung des Requiems beauftragte, ein Auftrag, den Eybler aus unbekannten Gründen aber bald wieder zurückgab. Als langjähriger Chordirektor des Wiener Schottenstifts und später als Hofkapellmeister am Wiener Hof, schrieb Eybler zahlreiche liturgische Werke (die Missa Sancti Alberti von Eybler ist ebenfalls neu im Carus-Programm: Carus 27.084, s. Seite 28), aber auch mehrere Oratorien und sogar eine Oper. Eyblers Hirten-Oratorium erinnert an vielen Stellen überdeutlich an den späten Mozart (oft muss man beim Hören unweigerlich an Die Zauberflöte denken), gemahnt aber auch an die wenig später entstandenen Oratorien Haydns und zeichnet Eybler in Sätzen traumhafter Schönheit als großen Meister einfühlsamer Instrumentation aus.
Als wahren Meister der Instrumentation kann man zu Recht auch Ottorino Respighi bezeichnen. Respighi gehörte zu einer Gruppe von Komponisten, die im frühen 20. Jahrhundert einen Neuanfang der italienischen Musik nach dem Jahrhundert der Belcanto-Oper wagten – in für die italienische Musik neuen Gattungen, mit neuen musikalischen Mitteln, aber auch mit bewusstem Anknüpfen an die Musik und Literatur des „alten“ Italien. Berühmt wurde Respighi vor allem mit seinen noch heute vielgespielten Sinfonischen Dichtungen (u.a. Pini di Roma), die seine Kunst als großartiger Instrumentator unterstreichen. Das Hirtenidyll klingt in Respighis Lauda per la Natività del Signore (Carus 10.084) ganz anders als bei Eybler: Respighi entführt den Hörer mit dem Ensemble der „strumenti pastorali“ (Hirteninstrumente = Holzbläser) zu einem mittelalterlichen, altitalienischen Text in eine bezaubernde Klangwelt, die in stilistischer Vielfalt mit spätromantischen und neobarocken Elementen sowie mit Anklängen an die Gregorianik spielt. Für Solisten und Chor ist die Aufführung keine einfache, aber eine überaus reizvolle Aufgabe (im September dieses Jahres wird eine CD mit dem Werk bei Carus erscheinen).
Fast gleichzeitig mit Respighis Lauda (1930) entstand Hugo Distlers Weihnachtsgeschichte (Carus 10.011). Wie Respighi verbindet Distler hier Rückgriffe auf die Musikgeschichte mit seiner ganz eigenen Tonsprache; das A-cappella-Werk dauert ebenfalls eine gute halbe Stunde. (Auch dieses Werk wird im September auf CD erscheinen.)
Neben diesen eher gewichtigen Werken widmet sich Carus auch kleiner dimensionierten Kantaten für den Weihnachtsfestkreis. In den vergangenen Jahren konnten die lange zu Unrecht vernachlässigten Komponisten der Generation nach Johann Sebastian Bach wieder an Ansehen gewinnen; das Jubiläumsjahr 2014, in dem die 300. Geburtstage von Gottfried August Homilius und Carl Philipp Emanuel Bach gefeiert wurden, hat ebenfalls hierzu beigetragen. Eine weitere Kantate von Homilius für den Weihnachtsfestkreis ist bei Carus erhältlich, nämlich die Kantate zur Epiphaniaszeit Kommt, frohe Völker herzu (Carus 37.222, eingespielt auf der CD 83.267).
Kaum weniger bedeutend als Homilius war der zwei Jahre jüngere Magdeburger Kantor Johann Heinrich Rolle; mit nur einer Stimme weniger unterlag Rolle übrigens 1767 Carl Philipp Emanuel Bach bei der Bewerbung um die Nachfolge Telemanns in Hamburg! Den Schwerpunkt in Rolles Schaffen bilden seine „musikalischen Dramen“ zu biblischen Stoffen, aber er hat in großer Zahl auch Kantaten, Motetten und Oratorien geschrieben. Die Erfahrungen mit den Dramen haben auch Rolles Herangehensweise an Kantatentexte geprägt. So wird der Eingangschor der Kantate Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich (Carus 10.025) beherrscht vom im Text angelegten Kontrast zwischen Finsternis auf Erden und dem Erscheinen des Herrn: Langsame Passagen mit absteigender chromatischer Melodik wechseln unvermittelt mit aufsteigenden Akkordbrechungen – natürlich mit Trompeten!
Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg, Gottfried August Homilius in Dresden und Johann Heinrich Rolle in Magdeburg waren Kantoren und Musikdirektoren an großen Stadtkirchen mit professionellen, gut ausgestatteten Ensembles: Ihre Kantaten – gerade für festliche Gelegenheiten – verlangen teils einen stattlichen Besetzungsapparat. Nicht so die Weihnachtskantate Daran ist erschienen die Liebe Gottes (Carus 10.018) des Wertheimer Kantors Johann Wendelin Glaser aus derselben Komponistengeneration. Glasers Orchester beschränkt sich hier auf zwei Traversflöten (gut auch von Violinen spielbar) und Continuo – doch gestaltet er mit diesen reduzierten Mitteln eine „ausgewachsene“ Kantate mit einem kurzen, schwungvollen Eingangschor, zwei melodiösen Arien mit einem Rezitativ (Tenor und Bass) dazwischen und einem Schlusschoral – auch heute noch ein reizvolles Werk, gerade für kleinere Kantoreien.
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