Aus dem Vollen geschöpft
Einblicke in Original und reduzierte Fassung der Messe de Requiem von Camille Saint-Saëns
Nicht weniger als vier Harfen verlangt die opulent instrumentierte Requiem-Vertonung von Camille Saint-Saëns. Das ausdrucksstarke Werk berührt und fasziniert gleichermaßen, auch Carus-Cheflektor Uwe Wolf. Es ist ihm daher ein Herzensanliegen, eine Aufführung dieses Werks möglichst vielen Musizierenden zu ermöglichen – auch mit bescheidenerem Aufwand. Nun erscheint bei Carus anlässlich des 100. Todestages von Saint-Saëns 2021 eine Bearbeitung für Streicher, Harfe und Chor von Klaus Rothaupt.
„Aspekte des 19. Jahrhunderts“, unter diesem Motto standen 1976 die Kasseler Musiktage. Seit Frühjahr 1976 sang ich in der Kantorei an St. Martin unter Klaus-Martin Ziegler und erarbeitete damals gerade für diese Musiktage ein großes Chor-Orchesterkonzert. Auf dem Programm standen drei sehr unterschiedliche Highlights: das Te Deum von Antonín Dvořák, die Altrhapsodie von Johannes Brahms und als Hauptwerk das Requiem von Camille Saint-Saëns. Das Konzert war für mich – noch nicht mal 15 Jahre alt – ein prägendes Erlebnis und besonders das Requiem von Saint-Saëns hatte es mir mit seiner farbenreichen Instrumentation angetan.
Diesem Konzert ist es zu verdanken, dass Saint-Saëns‘ Requiem auf meiner Projektliste stand, als ich 2011 die Leitung des Carus-Lektorats übernahm. Bis heute gehört es zu meinen Lieblingsvertonungen dieses Textes. Im kirchenmusikalischen Œuvre von Saint-Saëns nimmt es eine Sonderstellung ein, legt sich nicht die Fesseln des damals vom Historismus geprägten kirchlichen Stils an, sondern schöpft aus dem Vollen seiner Instrumentierungskunst. Das Requiem lässt es auch an Anklängen an die Oper nicht fehlen, ohne aber irgendwo oberflächlich zu werden: Alles steht im Dienst eines tief empfundenen und unmittelbar auf Musiker*innen wie Publikum wirkenden Ausdrucks. Nicht ohne Grund hat der französische Musikwissenschaftler Jacques Bonnaure 2010 das Requiem als „vielleicht das einfallreichste, feinfühligste und vollkommenste Werk“ von Saint-Saëns bezeichnet.
Programmheft der Kasseler Musiktage 1976
Opulente Orchesterbesetzung mit vier Harfen
Saint-Saëns schöpfte dabei nicht nur kompositorisch aus dem Vollen, sondern auch in der Bestückung seines Orchesters: vierfaches Holz, vier Hörner, vier Posaunen (unisono!), vier Harfen, zwei Orgeln (von denen eine bei der Uraufführung in der Église Saint-Sulpice in Paris von Charles Widor gespielt wurde) und natürlich ein entsprechender Streicherapparat sind gefordert; sicher auch ein Grund, warum dieses Werk bis heute so selten gespielt wird! Es war daher klar, dass man Lösungen anbieten muss. So ist die von Fritz Näf herausgegebene Carus-Edition von 2017 so eingerichtet, dass man nicht nur die originale Fassung mit 20 Bläsern, sondern auch eine Reduktion auf orchestrales „Normalmaß“ mit „nur“ elf Bläsern aufführen kann; Fritz Näf hat die dann entfallenden Partien (sofern sie nicht ohnehin nur andere Stimmen verdoppeln) geschickt auf die anderen Stimmen verteilt, so dass das Werk nichts von seiner Farbigkeit einbüßt. Die vier Harfen spielen ohnehin weitgehend unisono (nur in zwei Sätzen sind sie zweigeteilt, von denen eine zur Not auch entfallen kann), und die beiden Orgelstimmen lassen sich gut auf einem Instrument darstellen. Tatsächlich hat es den Anschein, als habe die Carus-Edition das Werk schon ein wenig dem Dornröschenschlaf entrissen!
Église Saint-Sulpice in Paris: Ort der Uraufführung
Die ungeheuer große Besetzung stand wohl schon früh der Verbreitung von Saint-Saëns‘ Requiem im Weg. Wenige Jahre nach Saint-Saëns‘ Tod erschien 1927 bei Durand eine reduzierte Fassung für „Quintette à cordes, Orgue et Harpe“, bzw. es erschien 1927 eigentlich nur eine Orgelstimme eines ungenannten Bearbeiters mit dem Untertitel „remplaçant les Instruments à vent“, eine Orgelstimme also, die die Bläser insgesamt ersetzt und mit den vorhandenen Stimmen der Streicher und einer der Harfenstimmen des Originals gemeinsam verwendet werden kann. Eine Partitur dieser Fassung hat es wohl nie gegeben, und die Orgelstimme erfordert ein gründliches Studium der Originalpartitur, denn Angaben zur Klangfarbe fehlen in der Orgelstimme von 1927 vollständig.
Fassung in reduzierter Besetzung
Angesichts des 100. Todestag von Saint-Saëns 2021 erscheint bei Carus nun auch eine Neuausgabe dieser Fassung, erstmals nun auch mit Partitur. Die Orgelstimme wurde dafür von Klaus Rothaupt durchgesehen und um Angaben zur Registrierung erweitert. Das kann Saint-Saëns‘ orchestrale Farbigkeit zwar nicht in jeder Hinsicht ersetzen, aber anders als eine reine Orgelfassung (wie sie noch im 19. Jahrhundert zu Saint-Saëns‘ Messe à quatre voix erschien) bewahrt die Fassung des Requiems einerseits die Eigenständigkeit der unterschiedlichen Klangkörper und erlaubte es andererseits dem Bearbeiter, die Bläserstimmen auch wirklich umsetzen zu können.
Damit reiht sich auch das Requiem von Saint-Saëns ein in unsere Reihe „Große Werke in kleiner Besetzung“, wenn auch hier erstmals in einer historischen Bearbeitung. Es ist das Anliegen dieser Reihe, die Highlights der Chormusik auch für Chöre erreichbar zu machen, für die die Originalfassungen nicht realisierbar sind – sei es, weil die Chöre zu klein sind, um mit einem großen Orchester mithalten zu können, sei es weil der Platz für ein großes Orchester fehlt, sei es auch nur, weil für ein großes Orchester die finanziellen Mittel fehlen.
Aber darf man das? Darf man diese großartigen Werke so bearbeiten, „entstellen“? Nun, ein „Entstellen“ versuchen wir natürlich zu vermeiden, aber klar: Die Werke werden verändert, von dem, was der Komponist sich gedacht hat, bleibt etwas auf der Strecke, das lässt sich kaum vermeiden. Doch schon im 19. Jahrhundert sind Aufführungen in Bearbeitungen gang und gäbe, seien es die verbreiteten Fassungen für zwei Klaviere, seien es Bearbeitungen für Bläserensemble und Blaskapellen, ohne die viele Werke niemals ihre Popularität erlangt hätten.
Trotz allen Bemühens um den „Originalklang“ geht es bei der Musik vor allem um den Menschen. Musik ist nicht nur zum Hören gedacht, Musik ist ein Erlebnis! So wie keine CD ein Konzerterlebnis ersetzen kann, kann nichts die Erfahrung ersetzen, ein „großes Chorwerk“ selber gesungen zu haben. Und dies möglichst vielen Menschen zu ermöglichen, ist ja seit jeher das Ziel, ja der „Gründungsgedanke“ des Carus-Verlags – und das schließt das Bemühen um den Originalklang genauso ein, wie das Ziel, möglichst vielen Menschen das beglückende Erlebnis zu eröffnen, solche Werke zu singen. Und dafür ist uns nicht jedes Mittel recht, ein gut gemachter Kompromiss, eine einfühlsame Bearbeitung aber allemal!
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