Passionsmusik im Wandel
Carl Philipp Emanuel Bach und der empfindsame Stil
Wenn wir heute an Vertonungen der Passionsgeschichte denken, dann fallen uns vor allem die Kompositionen Johann Sebastian Bachs ein, die Johannes-Passion BWV 245 und die Matthäus-Passion BWV 244. Und dann kommt lange erst einmal nichts. Doch auch vor, neben und nach Bach wurden selbstverständlich Passionen geschrieben. Die Kompositionen stehen jeweils für ihre Zeit und orientieren sich an den jeweiligen Moden und Strömungen. Noch während Bach in Leipzig seine seinerzeit eher traditionellen oratorischen Passionen komponierte, trat das damals als moderner empfundene Passionsoratorium ganz ohne Bibeltext seinen Siegeszug an. Von Hamburg ausgehend erobern Passionsoratorien die Gottesdienste, vor allem aber auch die Konzerte; die berühmte, nach ihrem Dichter, dem Hamburger Kaufmannssohn Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) benannte „Brockes-Passion“ von 1712 war nicht die erste, aber doch die verbreitetste und meistvertonte Passionsdichtung ihrer Zeit. Auch Bach nutzte den Text als Vorlage für einige Sätze seiner Johannes-Passion.
Johann Sebastian Bach
Johannespassion
Fassung IV (1749)
BWV 245 (BWV3 245.5)
Carus 31.245
Carl Philipp Emmanuel Bach
Passions-Musik nach dem Evangelisten Matthäus
Mit Musik von Johann Sebastian Bach
BR-CPEB Dp 4.1, 1769
Carus 33.503
Schon in den 1730er Jahren beginnt der Musikgeschmack sich zu ändern; es entsteht das, was wir den „empfindsamen Stil“ nennen: Echte (nicht stilisierte) Gefühle, Natürlichkeit und Einfachheit rücken ins Zentrum – die Aufklärung lässt grüßen. Und das betrifft die Texte genauso wie die Musik. Sehr deutlich wird das, wenn wir die oratorischen Passionen Carl Philipp Emanuel Bachs betrachten. In Hamburg, wo Carl Philipp Emanuel ab 1768 als städtischer Musikdirektor der fünf Hauptkirchen tätig war, kam in den Gottesdiensten der Passionszeit alljährlich eine neue (!) oratorische Passion zur Aufführung, eine Passion mit biblischem Bericht oder, wie Bach einmal schrieb, eine Passion „alter Art“. Schon seine erste Hamburger Passion, die Matthäus-Passion für 1769 BR-CPEB D4.1 (Carus 33.503) war als Pasticcio angelegt: Eigene, überwiegend neue Komposition (alle „freien“ Sätze) verband er mit Übernahmen aus der Matthäus-Passion seines Vaters BWV 244: Die Choräle und die meisten Turbae sind direkt übernommen (die Turbae in einchöriger Bearbeitung), die Rezitative sind neu an denen J.S. Bach entlangkomponiert, oft sogar tongleich. Hier und da ist die Tesitura angeglichen, die Jesus-Worte zu Secci umgearbeitet, vor allem aber sind die Rezitative beim Sohn viel, viel schlichter: Die expressiven Extravaganzen, die die Rezitative Johann Sebastian Bachs so unverwechselbar machen, hat Carl Philipp Emanuel alle entfernt; bewusst entfernt: Sie passten nicht mehr in die Zeit.
Die Rückmeldungen auf seine erste und zugleich ambitionierteste Hamburger Passion waren wohl eher ernüchternd – überliefert ist nur, dass sie als zu lang empfunden wurde. Die folgenden 20 (!) Passionen Carl Philipp Emanuel Bachs sind nun nicht nur kürzer, sie enthalten viel weniger (bis gar keine) neue Musik mehr. Bach griff auf bewährte Passionen und Kantatensätze von Georg Philipp Telemann, Gottfried Heinrich Stölzel, Georg Anton Benda und vor allem Gottfried August Homilius zurück, kürzte die Passionen und tauschte bei Wiederaufführungen die freien Sätze gegen andere Übernahmen aus.
Seine Matthäus-Passion von 1769 aber verwandelte Bach in ein nicht-liturgisches Passionsoratorium, die sogenannte Passions-Cantate Wq 233: Der Passionsbericht wurde durch freie, neuvertonte Dichtung ersetzt, Choräle weitestgehend aus der Passion verbannt und hier und da ein neuer Satz ergänzt. Das Passionsoratorium entstand allerdings außerhalb der Dienstverpflichtungen Bachs, war mehr für die Konzerte als für die Gottesdienste bestimmt. Und damit landete Bach in Hamburg einen echten Hit: Nach der ersten Aufführung 1770 wurde sie bis 1785 jährlich in Hamburg aufgeführt.
Carl Philipp Emmanuel Bach
Passions-Cantate
Die letzten Leiden des Erlösers
BR-CPEB D 2 (Wq 233), 1770
Carus 33.233
Auch der erste Chorsatz „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ aus der Matthäus-Passion von 1769 fand Eingang in die Passions-Cantate. Es ist eine Überarbeitung des großartigen „Et misericordias“ aus C.P.E. Bachs Magnificat von 1749 Wq 215 (Carus 33.215, Satz 4). Als Bach in Hamburg 1779 sein Magnificat erneut aufführte, musste er ein neues „Et misercordias“ komponieren (Satz 4a), denn die Passions-Cantate war mittlerweile so bekannt, dass die Übernahme zu offensichtlich gewesen wäre.
Doch nicht nur in Hamburg führte man die Passions-Cantate immer wieder auf. Auch in Berlin, Danzig, Halberstadt, Köln, Königsberg, Kopenhagen, Ludwigslust, Potsdam und Riga sind Aufführungen belegt. Fast 50 zeitgenössische Abschriften sind erhalten. Bach konnte damit zwar nicht ganz an den immensen Erfolg von Carl Heinrich Grauns Passionsoratorium Der Tod Jesu, GraunWV B:VII:2, von 1755 (Carus 10.379) anknüpfen, es gelang ihm aber doch eine ähnlich weite Verbreitung im ganzen deutschen Sprachraum wie seinem Altersgenossen Homilius mit dessen Passions-Cantate „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ HoWV I.2 von 1775 (Carus 37.104). Und beide Werke fanden im Zuge der Musikpflege der Herrnhuter Brüdergemeinde (Moravian Brothers) noch im 18. Jahrhundert ihren Weg auch in die USA!
Alle Passionen und Passionsoratorien aus der Zeit der Empfindsamkeit schlagen einen versöhnlicheren Ton an als die Passionen J.S. Bachs und dessen Zeitgenossen. Das Leid wird weniger drastisch dargestellt, das Passionsgeschehen oft sogar nur indirekt vermittelt, dafür wird gefühlvoll mitgelitten. Und in vielen Passionen dieser Zeit klingt bereits Ostern an, am Ende steht ein Lobgesang: „Preiset ihn, erlöste Sünder, Lobsingt dem Überwinder“ beginnt der letzte Satz aus C.P.E. Bachs Passions-Cantate.
Die Musik ist bewusst viel schlichter gehalten als in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, melodiebetonter, aber zugleich sehr farbig, mit fast schon klassischer Orchesterbesetzung und -behandlung. Wer mit den Passionen J.S. Bachs großgeworden ist, muss sich auf diese so andere Art von Musik und Text einlassen, wer „unverbildet“ mit den Passionen der Empfindsamkeit in Berührung kommt, wird zu ihnen wahrscheinlich viel leichter einen Zugang finden als zu J.S. Bachs Komplexität – und kann sich der fraglosen Schönheit dieser Musik einfach hingeben.
Dr. Uwe Wolf ist als Musikwissenschaftler vor allem im 17. und 18. Jahrhundert zuhause. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von der Zeit Monteverdis und Schütz über Bach und die Generation der Bach-Söhne und -Schüler bis hin zur Wiener Klassik. Seit Oktober 2011 leitet er das Lektorat des Carus-Verlags. Zuvor war er über 20 Jahre in der Bach-Forschung tätig.
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