Bach 300: Das Jahr 1723 und die Folgen
„auf den Beginn einer neuen Epoche im Schaffen Bachs“
Jubiläumsjahre beschränken sich üblicherweise auf Geburts- und Todesdaten, deren Relevanz sich auch nicht schmälern lässt. Nun aber liegt Johann Sebastian Bachs 300. Geburtstag 1985 weit zurück und auch die Erinnerung an seinen 250sten Todestag im Jahr 2000 schwindet mehr und mehr, während der 350ste Geburtstag 2035 noch geraume Zeit auf sich warten lässt. Und wenn in den gerade vergangenen Jahren die Erinnerung an 300 Jahre Sonaten und Partiten für Violine solo (1720), Brandenburgische Konzerte (1721) und Wohltemperiertes Clavier (1722) geweckt wurde, dann galt dies drei herausragenden Instrumentalwerken der Köthener Kapellmeisterzeit, die der Komponist eigenhändig datiert hat. Im Jahr 2023 erinnern wir uns hingegen an ein ganz besonderes Ereignis, das einen Wendepunkt in Bachs kreativem und kompositorischem Schaffen darstellen sollte.
Seit 1985 verläuft Bachs Lebensweg von 1685 bis 1750 im Abstand von genau 300 Jahren synchron mit unserer Zeit – ein willkommener Anlass, den musikalischen Entwicklungsgang des Komponisten anhand seiner Werke im Einzelnen zu verfolgen. Hier nun wird 2023 mit dem Gedenken an Bachs Antritt des Leipziger Thomaskantorats im Frühjahr 1723 ein Schlüsselpunkt erreicht. Denn dieser zielt nicht nur auf den Beginn einer neuen Epoche im Schaffen Bachs, die sich über volle 27 Jahre hinzieht, sondern er markiert zugleich den Anfang des produktivsten Abschnittes seines Künstlerlebens. Dies gilt vor allem für seine Vokalmusik und in besonderer Weise für das wesentlich in den frühen Leipziger Jahren entstandene Kantatenwerk.
Thomaskirche, Leipzig
Es lohnt sich zu erinnern, dass Bachs Leipziger Amtsantritt etwa vor hundert Jahren – also 1923 – nicht so bewertet werden konnte, wie es heute möglich ist. Denn es ist das Verdienst der modernen Bach-Forschung, die Entstehungsgeschichte der Leipziger Vokalwerke Bachs erstmals in eine weitgehend schlüssige Abfolge und vor allem die Kantaten in eine nach Jahrgängen gegliederte Ordnung gebracht zu haben. Somit lässt sich insbesondere für die ersten Leipziger Jahre 1723–1725 ein fast lückenloser 300-jähriger Jubiläumskalender erstellen.
Bachs Antrittsmusik als Thomaskantor erklang mit der Kantate „Die Elenden sollen essen“ BWV 75 (Carus 31.075) zum 1. Sonntag nach Trinitatis am 30. Mai 1723. Zwei Tage später erfolgte seine offizielle Amtseinweisung. Drei Monate zuvor, am Sonntag Estomihi, dem 7. Februar 1723, hatte Bach die Kantoratsprobe mit den beiden Kantatenaufführungen (jeweils vor und nach der Predigt) von „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“ BWV 22 (Carus 31.022) und „Du wahrer Gott und Davids Sohn“ BWV 23 (Carus 31.023) erfolgreich abgelegt und war damit zum Favoriten für die Nachfolge des 1722 verstorbenen Thomaskantors Johann Kuhnaus aufgestiegen, der das Amt seit 1701 verwaltet und zuvor als Thomasorganist gewirkt hatte.
Bachs regelmäßige Leipziger Kantatenaufführungen begannen mit dem Schuljahresbeginn, dem 1. Sonntag nach Trinitatis, und setzten sich Sonntag für Sonntag fort, aber berücksichtigten auch zusätzlich die Marienfeste, Aposteltage und das Reformationsfest sowie die jeweils drei Feiertage zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Wenn man im Abstand von 300 Jahren den rigorosen Leipziger Aufführungskalender der 1720er Jahre nachvollzieht, erscheint der vom Thomaskantor bewältigte allwöchentliche Schaffensrhythmus und die schiere Anzahl neukomponierter Vokalwerke in den ersten Kalenderjahren geradezu unglaublich: 39 (1723); 56 (1724); 40 (1725); 44 (1726–1727).
Zu berücksichtigen bleibt, dass Bach im ersten Jahr gelegentlich auf Kantaten zurückgriff, die er aus Weimar mitgebracht hatte, um auf diese Weise sein Arbeitspensum erträglicher zu machen. So wählte er gleich zum 3. Sonntag nach Trinitatis 1723 die bereits 1714 entstandene Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21 (Carus 31.021). In vielen Fällen musste er die Weimarer Kantaten jedoch neu einrichten bzw. umarbeiten, um sie den Leipziger Verhältnissen anzupassen. Aus dem gleichen Grund der Arbeitsökonomie übernahm er Köthener Werke in parodierter Form, d. h. durch geistliche Umtextierung weltlicher Kantaten – so die Kantaten BWV 66 (Carus 31.066), 134 (Carus 31.134), 173 (Carus 31.173) und 184 (Carus 31.184) für die untergeordneten Feste der zweiten und dritten Oster- und Pfingsttage 1724.
Die Statistik weist aber auch deutlich aus, wie die Produktion ab Mitte 1725 deutlich und offenbar planmäßig abnimmt. Anscheinend hatte Bach relativ frühzeitig entschieden, keine nur einmal aufzuführende kurzlebige Kantaten, sondern wiederaufführbare Repertoirestücke zu schreiben. Darum legte er sich gleich in den ersten Jahren des Thomaskantorates einen Fundus an Werken zu, deren Wiederaufführung sich lohnen sollte. In dieser Hinsicht hebt sich sein Repertoirekantaten-Konzept von den Vorstellungen anderer Zeitgenossen ab, die wie etwa Christoph Graupner und Georg Philipp Telemann mehr als 1400 bzw. 1750 Kantaten oder Gottfried Heinrich Stölzel mindestens 12 Kantaten-Jahrgänge hinterließen. Bach ließ es nicht an Aufwand mangeln, um der seinerzeit jungen Gattung der Kirchenkantate neue Wege zu weisen und dafür ein weitgehend singuläres Profil zu entwickeln. Insofern darf das Korpus der Bach-Kantaten qualitativ als das Bedeutendste gelten, das in der Gattungsgeschichte der Kantate geschaffen wurde.
Die Leipziger Kantaten zeugen durchweg von gleichmäßig hohem Niveau, doch Werke wie „Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht“ BWV 105 (Carus 31.105), „Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei“ BWV 46 (Carus 31.046), „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ BWV 25 (Carus 31.025) oder „Warum betrübst du dich, mein Herz“ BWV 138 (Carus 31.138) – um nur vier Beispiele aus dem Jahrgang I von 1723–1724 herauszugreifen – belegen in herausragender Weise Bachs differenzierte musikalische Formensprache und tiefes Ausdrucksvermögen.
In noch höherem Maße gilt dies für Jahrgang II, der ausschließlich aus neukomponierten Kantaten besteht, wodurch das Schuljahr 1724/25 zum überhaupt produktivsten Jahr in Bachs Leben wurde. Mit „O Ewigkeit, du Donnerwort“ BWV 20 (Carus 31.020) einsetzend, komponierte der Thomaskantor eine ununterbrochene Reihe von 44 Choralkantaten. Dabei handelt es sich um Werke, denen ausschließlich Choralmelodien und -texte zugrunde liegen. Der so sorgfältig geplante Zyklus findet jedoch aus unbekannten Gründen seinen Abbruch mit der Kantate „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ BWV 1 (Carus 31.001) zum Fest Mariae Verkündigung am 25. März 1725.
Nach Ostern 1725 folgen reguläre gemischte Kantaten aus Bibelwort, Choralstrophe und freier Dichtung – ein Format, auf dem auch die auf den Jahrgang II folgenden Werke basieren. Doch auch hier finden sich immer wieder musikalische Besonderheiten und Novitäten, so etwa die Aufnahme ausgedehnter Konzertsätze zu Beginn der Kantaten, darunter vor allem ab 1726 solche mit obligater Orgel. Schließlich fand das 1723 begonnene Kantaten-Großprojekt im Wesentlichen noch um 1729 sein Ende, und nur vereinzelt kamen später neue Kantaten hinzu. Freilich boten auch die Wiederaufführungen des Werkbestandes immer wieder Anlass zu Veränderungen und weiteren Verbesserungen.
Der Antritt des Thomaskantorats 1723 bedeutete nicht nur den Beginn der Kantatenproduktion, sondern bot zugleich den unmittelbaren Anlass für die besondere musikalische Ausgestaltung der hohen Festtage. Mit dem 5-stimmigen lateinischen Magnificat BWV 243 (Carus 31.243), das Bach für den Weihnachts-Vespergottesdienst 1723 komponierte, entstand sein erstes vokales Großwerk. Ihm folgte die Johannes-Passion „Herr, unser Herrscher“ BWV 245 (Carus 31.245) für die Karfreitags-Vesper 1724, die er im Folgejahr in stark umgearbeiteter Fassung mit dem Eingangschor „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ erneut aufführte. Damit steht auch für diese Vokalwerke deren 300-jähriges Jubiläum unmittelbar bevor, während es für die Matthäus-Passion BWV 244 (Carus 31.244) noch auf sich warten lässt. Denn deren 1727 erfolgte Erstaufführung ist nur fragmentarisch greifbar. Erst 1736 erhielt „die große Passion“, wie sie im Bachschen Familienkreis genannt wurde, in einer Neufassung ihre endgültige Gestalt. In die 1730er Jahre fällt dann auch die große Trilogie mit den Oratorien für Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt.
Die große Fülle der 1723 und in den Folgejahren entstanden Vokalwerke darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Thomaskantor auch alten Gewohnheiten treu blieb und weiterhin – gleichsam nebenher – auch neue Orgel- und Klavierwerke, Kammer- und Orchestermusik komponierte. Allerdings lässt sich die jeweilige Entstehungszeit der Instrumentalwerke nicht so exakt kalendarisch fixieren, wie es für die Vokalwerke aufgrund der Daten des Kirchenjahres möglich ist. Doch mag dies dem Hinweis dienlich sein, dass die Musik Johann Sebastian Bachs von Jubiläen zwar bestimmte Impulse erhalten kann, dass ihr Fortleben und ihre Wirkung jedoch von Jubiläen jeder Art durchaus unabhängig ist.
J. S. Bach
Magnificat in D
Carus 31.243
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Wolff gehört zu den profiliertesten Bachforschern der Gegenwart. Er ist Professor emeritus der Harvard University und war von 2001 bis 2013 Direktor des Leipziger Bach-Archivs.
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