Hamlet Prinzessin von Dänemark

Hamlet – Prinzessin von Dänemark

Über das neue Kindermusical von John Høybye (Musik) und Michael Sommer (Text)

Es ist schon richtig was los, als ich das „Bräuhaus“ der Landesakademie für die musizierende Jugend in Baden-Württemberg Ochsenhausen betrete. In einer halben Stunde wird hier die Uraufführung von Hamlet – Prinzessin von Dänemark anfangen. Siebzig Kinder zwischen 11 und 14 Jahren stehen auf der Bühne, denen Regisseur Benjamin Künzel und Dirigentin Barbara Comes letzte Anweisungen geben. Aber keine Spur von Rumgewusel oder Chaos – siebzig Kinder und so diszipliniert! Sie singen gemeinsam das erste Lied an: „Zusammengewürfelt, zusammen gelacht…“ – und ich muss mich erstmal setzen. Was für eine Power! Diese jungen Menschen wollen offenbar singen, sie wollen spielen, und das werden sie in der kommenden Stunde eindrucksvoll unter Beweis stellen.

Hamlet

Natürlich haben wir das erhofft, aber wir hatten auch Zweifel. 2020 fragte mich der Carus-Verlag, ob ich das Libretto zu einem Kindermusical anlässlich des 50-jährigen Verlagsjubiläums schreiben würde. Es sollte sich um einen literarischen Klassiker handeln, für Kinder geeignet sein, Chorpartien und natürlich gute Rollen auch für Mädchen enthalten. Gerade dieser letzte Punkt war uns wichtig: In den allermeisten bekannten Werken der Theaterliteratur sind Frauen und Mädchen nur Nebenfiguren, aber diese Ungleichbehandlung kann natürlich im 21. Jahrhundert nicht fortgesetzt werden. Deshalb der Gedanke aus Hamlet eine „Prinzessin von Dänemark“ zu machen. Diese Idee war keineswegs neu, sondern stammt von Asta Nielsen, der berühmten dänischen Stummfilm-Actrice, die 1921 ihren eigenen „Hamlet“-Film produzierte, bei dem sie selbst die Hauptrolle übernahm. Auch zu ihrer Zeit hatten schone viele Frauen Hamlet verkörpert, aber in so genannten „Hosenrollen“, das heißt die Frauen hatten einfach Männer gespielt. Asta Nielsen jedoch lieferte eine inhaltliche Erklärung: Hamlet war in Wahrheit eine Frau, ihr Geschlecht war ein Staatsgeheimnis, um ihre Thronbesteigung zu ermöglichen. Diese Veränderung der Shakespeare-Geschichte machte viele Verhaltensweisen des rätselhaften Dänenprinzen plötzlich plausibel: Das besondere Verhältnis zu Horatio, die schwierige Beziehung zu Ophelia, auch die Zögerlichkeit bei der Umsetzung des Racheauftrags an Claudius. Okay, dachten wir uns, „Hamlet“ ist das mit Abstand bekannteste Theaterstück der Welt, wir haben jetzt mehrere gute Frauenrollen – aber ist das eine Geschichte, die man für Kinder erzählen kann und vor allem sollte?

Benjamin Künzel begrüßt mich mit einer kurzen Umarmung – viele Jahre lang haben wir als Kollegen am Theater Ulm gearbeitet. Und er hat mich vor der Uraufführung vorgewarnt: Er hatte mit den Kindern nur eine Woche Zeit, um das Musical zu erarbeiten, denn die Ox-Ki-Si, die Ochsenhausener Kinder-Singtage 2022, dauern nun einmal nur eine Woche und das ist der Rahmen, innerhalb dessen die Kinder die Lieder erarbeiten und lernen, den Text lernen und das Stück proben müssen, von der Gestaltung solcher Kleinigkeiten wie Ausstattung, Kostümen und Masken einmal ganz abgesehen. Eine Woche für „Hamlet“, das ist sportlich. Gleichzeitig spiegelt es auch eine Realität der schulischen Aufführungspraxis wider, denn die Zeiten, in denen in Theater- und Musical-AGs beinahe beliebig viel Zeit für das Einstudieren einer Aufführung hatten, sind vorbei. Also haben der Verlag, Komponist John Høybye und ich neben der Standardfassung noch eine „Kurzfassung“ des Musicals erarbeitet, die den aufführenden Gruppen Vorschläge für Kürzungen macht. Insofern war ich nicht überrascht, als Benjamin Künzel mir schrieb, dass sie Striche machen mussten. Was mich dann aber doch überraschte, war, dass die Kürzungen noch deutlich über unsere „Kurzfassung“ hinausgingen. Und jetzt kommt die größte Überraschung bei der Uraufführung: Das Stück hält es nicht nur aus, sondern die Geschichte, die die Kinder da auf die Bühne bringen, ist spannend und rund.

Dabei sind es unerhörte Dinge, die hier erzählt werden. Die Prinzessin, die für die Welt einen Prinzen spielt, will ihre Maske endlich loswerden, weil sie in Horatio verliebt ist, während er noch immer den Sandkastenfreund in ihr sieht. Da stirbt ihr Vater – aber statt nun selbst König von Dänemark zu werden, muss sie sich damit abfinden, dass ihr Onkel Claudius die Macht und die Hand von Hamlets Mutter Gertrude ergreift. Und jetzt erscheint auch noch der Geist ihres Vaters und fordert sie zur Rache auf! Ein dunkles Geheimnis, Liebe, Mord, Rache, Tod – und das soll eine Geschichte für Kinder sein? Wie sollen sie damit umgehen? Ist das nicht eine Überforderung?

Der Autor

Michael Sommer ist freier Autor und Regisseur in München. Er schreibt Theaterstücke und betreibt den YouTube Kanal SOMMERS WELTLITERATUR TO GO.

Um möglichst vielen Kindern möglichst viel zu spielen zu geben, sind die Hauptrollen bei der Uraufführung doppelt besetzt. Hamlet Nummer eins ist Berenike Wienss. Selbstbewusst, selbstsicher, ja selbstverständlich spielt sie mit der Krone, geht in den Konflikt mit ihrem Stiefvater Claudius, stellt sich dem Einbruch des Übernatürlichen – der Geistererscheinung. Dieser Geist ist auf mehrere Mitglieder des Chores aufgeteilt, die vielen Stimmen machen das Unheimliche auf gruselige Weise spürbar. Komponist John Høybye hat das dazugehörige Lied „Armer König“ in einen „funky“ melodischen Teil und einen Rap aufgeteilt, der ein bisschen nach einem Abzählreim für Kinder klingt. Und diese Mischung verkörpern die Darsteller und der Chor perfekt. Es ist eine Atmosphäre, die unter die Haut geht. Zusätzlich zu seinem Geheimnis, zur Verliebtheit, zur Trauer wird Hamlet noch ein Racheauftrag aufgeladen – kein Wunder, dass er bei nächster Gelegenheit jede Höflichkeit gegenüber Ophelia hinter sich lässt und sie – genau wie den in sie verliebten Horatio – anschnauzt. Und so läuft die Geschichte gnadenlos weiter; wie in einem gut geölten Uhrwerk greift eine Szene in die andere – aber wie die Darsteller*innen sich diese Szenen und Rollen einfach nehmen und zu „ihrem“ Stück machen!

Es ist ein Missverständnis, anzunehmen, dass man Kindern keine Geschichten über die existenziellen Themen des Lebens zumuten kann. Wir alle haben jeden Tag mit Geheimnissen zu tun, mit Liebe und ihrer Abwesenheit, mit Lügen und dem Drang nach Vergeltung. Und wir alle müssen uns der Tatsache stellen, dass wir geliebte Menschen verlieren werden und irgendwann selbst sterben. Es ist kein Zufall, dass etwa die klassischen Märchen der Brüder Grimm sich keine thematischen Tabus auferlegen; es geht in ihnen immer um alles. Wichtig ist: Diese Geschichten müssen verständlich sein, sie müssen Modelle menschlichen Verhaltens bieten, mit denen die Kinder das Chaos in der Welt besser verstehen können. Was die Kinder dabei unbestechlich merken, ist, ob diese Geschichte sie fesselt und ob sie selbst sie spielen wollen. Kann ein alter Schinken wie „Hamlet“ Kinder auch im Zeitalter von Netflix und TikTok begeistern? Bitte sehen Sie mir das Pathos nach, aber die Uraufführung von „Hamlet – Prinzessin von Dänemark“ hat mir weit über meine Erwartungen gezeigt: Diese Art, einen Klassiker zu erzählen, ist genau das, was Kinder fasziniert.

John Høybye. Komponist

John Høybye
Hamlet. Prinzessin von Dänemark
Ein Shakespeare-Musical
Carus 12.454/00

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