Monteverdis Wald
Die „Selva morale et spirituale“
Mantua 1610. Der Hofmusiker Claudio Monteverdi strebt nach 20 Jahren aufreibendem Dienst nach einem kirchenmusikalischen Amt, das ihm mehr Stetigkeit verspricht. Angesichts einer bevorstehenden Reise nach Rom bereitet er eine gedruckte Musiksammlung vor, die er Papst Paul V. widmet und hofft, in Rom persönlich übergeben zu können: eine Art kirchenmusikalische Visitenkarte. Auch wenn ihm die Audienz verwehrt bleibt, Monteverdi hat mit dieser Sammlung Unsterbliches geschaffen: Wir reden von dem Druck mit der Missa in illo tempore und der heute viel aufgeführten Marienvesper. Besonders von Letzterer mit der enorm spannungsgeladenen Verbindung zwischen verschiedenen Stilen in den Psalmen und den dazwischen stehenden, wahrlich atemberaubenden Konzerten geht eine unglaubliche Faszination aus: Für mich wirklich einer der Gipfel abendländischer Musik.
Claudio Monteverdi
Selva morale et spirituale
Salmi I
Carus 27.802/00
Claudio Monteverdi
Selva morale et spirituale
Salmi II
Carus 27.803
Für Monteverdi blieb die Publikation der Sammlung trotz verwehrter Audienz nicht ohne Folgen: 1613 bewirbt er sich erfolgreich auf die Nachfolge Giulio Cesare Martinengos (ca. 1565−1613) als Kapellmeister an San Marco in Venedig. Diese Stelle erhält er ausdrücklich nicht nur aufgrund der absolvierten Probe, sondern auch wegen der vorgelegten gedruckten Musik. Und nur einer der damals bereits zahlreichen Musikdrucke Monteverdis hat ihn für dieses kirchenmusikalische Amt empfehlen können: Der Kirchenmusikdruck von 1610 mit der Marienvesper. Damit hatte Monteverdi nun (bis zu seinem Tod 1643) eines der wichtigsten kirchenmusikalischen Ämter Italiens inne. Dies bedeutete, dass er jährlich eine große Zahl an oft prächtigen Gottesdiensten mit Musik zu versorgen hatte, die mit zur aufwendigen Repräsentation der Serenissima Repubblica gehörten. San Marco war damals noch keine Dom-, aber die Staatskirche der Republik Venedig. Dafür stand Monteverdi ein großes und unter seiner Amtsführung beständig gewachsenes Ensemble zur Verfügung: 1643 waren es 35 Sänger und 16 Instrumentalisten − ohne die häufig belegten Aushilfen!
Aber es dauerte nach 1610 mehr als 30 Jahre, bis Monteverdi erneut eine Sammlung mit Kirchenmusik vorlegte: sein Vermächtniswerk, die Selva morale et spirituale von 1641. Dass man eine Sammlung als „Wald“ (ital. selva) bezeichnete, war damals nichts Besonderes. Die Autoren wollten damit sowohl die große Menge als auch die Verschiedenartigkeit der Kompositionen unterstreichen. Im Kern ist Monteverdis „Wald“ eine Sammlung mit Musik für Messe und Vesper, wie auch sein Druck von Kirchenmusik 1610. Allerdings ist dieser Kern umrahmt von einigen geistlichen Madrigalen zu Anfang und einer geistlichen Parodie seines berühmten Lamento d’Arianna am Ende. Diese für einen solchen Druck ungewöhnlichen Beigaben hat man wohl zu Recht mit der Widmungsträgerin in Verbindung gebracht: Musik für die Privatandachten der Kaiserwitwe Eleonora Gonzaga, Tochter von Monteverdis einstigem Dienstherren Vincenzo Gonzaga in Mantua. Beim Kern der Selva, der liturgischen Musik, konnte Monteverdi ganz offensichtlich aus dem Vollen schöpfen. Er legt nicht nur alle nötigen Psalmen für unterschiedliche Vespern an Gedenktagen für männliche Heilige vor, sondern bietet zu vielen der Psalmen gleich mehrere Vertonungen an, ebenso zum Magnificat, zu verschiedenen Vesperhymnen (denen Monteverdi – ganz Praktiker – zum Teil gleich mehrere Texte unterlegt, um diese vielseitig verwendbar zu machen) und zum Salve Regina. Und die Messe am Anfang der Sammlung wird durch Alternativvertonungen einzelner Messteile oder Abschnitte ebenso variierbar.
Den großbesetzten Psalmen, dem ersten Magnificat und dem Gloria merkt man die repräsentative Pracht der Dogenkirche an. Die meisten Instrumente und auch manche Singstimmen können aber auch weggelassen werden („wenn es nötig ist“, wie Monteverdi schreibt; leicht gefallen ist ihm die Anpassung der Stücke an „normale“ Verhältnisse sicher nicht!). Die Psalmen unterscheiden sich von denen von 1610 deutlich. Die Zeit des Experimentierens der spannenden Jahre um 1600 ist vorbei, die Kompositionen sind ausgeglichener, reifer. Es gibt eine klare Trennung zwischen solistischen und chorischen Passagen, wobei die Tuttipassagen eine große Klangpracht entfalten und auch bei den solistischen Passagen meist die Klanglichkeit gegenüber der Virtuosität im Vordergrund steht. Zusammengehalten werden die Kompositionen aber nun nicht mehr durch die Psalmtöne, sondern durch ihre innere Dramaturgie. Und von Monteverdis musikdramatischem Ansatz kann man auch in Bezug auf die solistischen Werke sprechen – sei es das komponierte Zwiegespräch in Jubilet tota civitas, seien es die Salve Regina, die man zu Recht als musikdramatische Inszenierungen des Gebets bezeichnet hat.
Anders als bei der Marienvesper ist eine Gesamtaufführung der Selva weder sinnvoll noch praktikabel: Es ist ein Repertoire, aus dem ganz unterschiedliche Programme gestaltet werden können – sowohl hinsichtlich der Dauer, der Besetzung, des (in vielen Kompositionen moderaten) Schwierigkeitsgrades, aber auch hinsichtlich der Grundkonzeption: Sowohl die Orientierung an einer möglichen liturgischen Abfolge als auch ein musikalischer Gang durch verschiedene Aspekte der Selva sind denkbar.
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