Im edelsten Geiste sinnlich
Josef Gabriel Rheinbergers Musica Sacra
Kirchenmusik lag dem Liechtensteiner Komponisten Josef Gabriel Rheinberger ganz besonders am Herzen. Doch stand er den seinerzeit vorherrschenden Bestrebungen des Cäcilianismus fern, suchte in seiner Musiksprache nicht abgeklärte Strenge, sondern emotionale Wärme und Sinnlichkeit. Dabei fand er zu einem ganz eigenen Ton, in dem sich traditionelle Strukturen mit spannungsvollen harmonischen Entwicklungen in ausgeglichener Balance verbinden.
München, den 9. März 1855: Josef Gabriel Rheinberger, gerade noch 15 Jahre alt, Privatstudent mit glänzendem Abschlussdiplom, aber noch ohne bezahlte Stelle, komponiert in einer kleinen Kammer in der Müllerstraße eine Motette, die heute zu seinen berühmtesten Werken gehört: das Abendlied „Bleib bei uns“.
„Überhaupt habe ich zu kirchlichen Kompositionen mehr Lust und Talent als zu anderen“, schrieb der junge Rheinberger am 14.12.1853 an die Eltern im heimatlichen Vaduz. Es war kein leeres Wort, um die frommen Eltern zu erfreuen. Es war das Motto einer Laufbahn, die nach langen Jahren als Chefdirigent des Oratorienvereins und Professor an der Königlichen Musikschule 1877 in der Ernennung zum Hofkapellmeister für Kirchenmusik durch den „Märchenkönig“ Ludwig II. von Bayern gipfelte.
Abendlied
Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius
CD Carus 83.113
Wer zu jener Zeit ein zentrales kirchenmusikalisches Amt bekleidete, wurde geradezu unweigerlich in die Diskussion um Aufgaben und Wesen der Kirchenmusik hineingezogen, die seit Anfang des Jahrhunderts die Gemüter erhitzte. München war eines der Zentren der katholischen Kirchenmusikreform und stand im Blickpunkt der zum Teil sehr rückwärtsgewandten Vertreter des „Cäcilianismus“. Sie wollten die Kirchenmusik von den Entwicklungen der zeitgenössischen Musik und dem Opernstil reinhalten und favorisierten blasse Stilkopien Palestrinas. Zudem lehnten sie Orchestermessen ab und verurteilten Auslassungen oder Umstellungen von Worten in liturgischen Texten sowie das gleichzeitige Erklingen von unterschiedlichen Textabschnitten.
Rheinberger allerdings wollte sich nicht in das enge, durch reine Nachahmung geprägte Korsett zwängen lassen. Zwar befand auch er, dass die Musik der Kirche ernsthaft und würdevoll sein müsse, doch solle sie sich weder auf einen bestimmten Stil beschränken noch auf die harmonischen und klanglichen Mittel der eigenen Zeit verzichten. 1888 schrieb er dem Haupt der Regensburger Cäcilianer, Franz Xaver Witt: „Keinem Poeten wird es einfallen in dem Dialekt und in der Sprachweise eines früheren Jahrhunderts zu dichten und dieß für die einzig richtige Poesie auszuposaunen; denn jeder, auch der kirchliche Künstler gibt, fußend auf unwandelbaren Gesetzen, dem Empfinden und den Anschauungen seiner Zeit und mit den Kunstmitteln seiner Zeit Ausdruck.“ Weiter führte er aus, dass Musik wie alle Kunst sinnlich wirke, es dabei Aufgabe eines kirchlichen Künstlers sei, „daß sie [die Musik] aber im edelsten Geiste sinnlich wirke“.
In diesem Sinne ist ein Großteil von Rheinbergers geistlicher Musik zu verstehen. Als Kirchenkomponist fußt er auf den „unwandelbaren Gesetzen“, den Gesetzen des Kontrapunkts, wie ihn die alten Meister beherrschten, zugleich aber setzt er auch die „Kunstmittel der eigenen Zeit“ ein, wie spannungsvolle Modulationen und durch Alteration geschärfte Klänge. Doch drängen sich die einzelnen Effekte nie in den Vordergrund, sondern ordnen sich immer dem Gesamteindruck eines Werks unter, der von der meist liedhaft-sanglichen Melodik und einer ausgeglichenen harmonischen Entwicklung geprägt ist. Das Hörergebnis dieses Mittelwegs ist zweifellos das, was Rheinberger unter einer „im edelsten Geiste sinnlich“ wirkenden Kirchenmusik verstand.
Geradezu als „Statement“ komponierte Rheinberger um 1877 eine Reihe von Werken, die seine Position eindrucksvoll belegen. Dazu gehört der Cantus Missae op. 109, eine achtstimmige A-cappella-Messe, die äußerlich im „alten Stil“ komponiert und doch mit den harmonischen Mitteln der Zeit gestaltet ist. Die Widmung richtet sich an Papst Leo XIII. Die Fünf Hymnen op. 107 (darunter Christus factus est mit einer eindrucksvollen Fuge) widmete Rheinberger dem Leipziger Thomanerchor, denn in Bachs Musik sah er ein Gegengewicht zu den katholischen Restaurationsbemühungen um die Musik Palestrinas und seiner Zeitgenossen.
Neben anspruchsvollen vier- bis sechsstimmigen Motetten (darunter die großartigen, kontrapunktisch dicht und klangsinnig gestalteten Motetten op. 133 und op. 134 und die Hymnen op. 140 für Chor und Orgel) komponierte Rheinberger auch gezielt „einfach ausführbare“ Werke, darunter die Missa in G-Dur op. 151 und das Stabat Mater op. 138 für Chor, Orgel und Streicher.
Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius
CD Carus 83.113
CD Carus 83.140
Dreizehn Messen und drei Requiem-Vertonungen stammen aus seiner Feder, wobei er sich in den späteren Jahren zunehmend der orgelbegleiteten Messe zuwandte. Zu den beliebtesten Messen gehören nicht nur die Frauenchor-Messe in A-Dur op. 126, sondern auch die beiden Messen für Männerchor op. 172 und 190 aus den 1890er Jahren. Die Messe in g-Moll op. 187, die Rheinberger 1897 dem Andenken an Johannes Brahms widmete, gehört ebenso zu den Höhepunkten seines Schaffens wie die beiden originellen Zyklen für Solostimme und Orgel op. 128 und op. 157. Als Gegengewicht zu seinen klein besetzten Messen für die Liturgie komponierte Rheinberger 1891 die Messe in C-Dur op. 169 für Chor und Orchester.
Viele geistliche Werke für den Konzertsaal stammen noch aus Rheinbergers Zeit als Leiter des Münchner Oratorienvereins. Dort erklang z. B. die Hymne Wie lieblich sind deine Wohnungen op. 35, der Passionsgesang op. 46 im schlichten Volkston und vor allem das bereits 1870 komponierte große Requiem in b-Moll op. 60. Seine beiden oratorischen Werke komponierte Rheinberger auf Texte seiner Frau Fanny: die Legende Christoforus op. 120 (1882), die im In- und Ausland zu seinen Lebzeiten großen Erfolg hatte, und die Weihnachtskantate Der Stern von Bethlehem op. 164 (1890).
- Wie lieblich sind deine Wohnungen
Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius
CD Carus 83.113
- Passionsgesang
Vancouver Cantata Singers, James Fankhauser
CD Carus 83.146
- aus: Der Stern von Bethlehem,
Chor des Bayerischen Rundfunks,
Symphonie-Orchester Graunke, Robert Heger
CD Carus 83.111
Am 25. November 1901 verstarb Rheinberger in München. Er hatte in seinen letzten Wochen an einer Messe gearbeitet, die er „Allerheiligen-Messe“ nennen wollte. Seine Kompositionsskizzen zum Opus 197 reichen bis zum Ende des Credo; vom Sanctus und Agnus Dei konnte er nur noch die Anfangstakte notieren. Die vollständige Reinschrift der Partitur freilich bricht schon mitten im Credo ab. Rheinberger schrieb nur noch die Sopranstimme aufs Papier, just zu den Worten: „passus et sepultus est. Et resurrexit tertia die secundum scripturas“.
Kyrie von Rheinbergers letztem Werk, der Messe in a
KammerChor Saarbrücken, Georg Grün
CD Carus 83.410
Wir danken dem Amt für Kultur, Liechtensteinisches Landesarchiv Vaduz, Josef Rheinberger-Archiv für die verwendeten Abbildungen:
Bannerbild: Geburtshaus, Ausschnitt aus einer Zeichnung von Anton Rheinberger, LI LA RhAV E 18/004
Photo des 16-jährigen Rheinberger vom 13.3.1855 (Erwin Hanfstängl), LI LA AFRh Z 2/28
J.G. Rheinberger, Ave Maria, Autograph von WoO 7, Nr. 1. LI LA RhaV E 18/189
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Wie schade, dass es immer noch keine brauchbaren Aufnahmen der Messe C-Dur op. 169 und des Requiems b-moll op. 60 gibt …