Das „größte Werk“ Beethovens

Das Lieblingsstück im Oktober von Jan Schumacher ist Beethovens „Missa solemnis“.

Als der Dirigent Jan Schumacher zum ersten Mal eine Aufnahme von Beethovens Missa solemnis hörte, war er wie vor den Kopf gestoßen: Scheu und Angst gegenüber dem Werk hatte er auch zehn Jahre später noch nicht abgelegt. Lesen Sie selbst, warum Schumachers Begeisterung für das Werk aber mittlerweile keine Grenzen mehr kennt…

Als ich im Alter von 18 Jahren im Schulchor das erste Mal Beethovens C-Dur-Messe singen durfte, war ich sofort von der herrlichen Musik begeistert. Beflügelt vom Gedanken „Wenn das Beethovens ‚kleine‘ Messe ist, wie grandios muss dann erst die Missa solemnis sein!?“ kaufte ich mir sofort eine Aufnahme der Missa solemnis, hörte sie umgehend zu Hause an und war vor den Kopf gestoßen. Was sollte denn das für ein Stück sein?

Knapp 10 Jahre später „musste“ ich mich im Rahmen einer Einstudierung wieder mit der Missa solemnis beschäftigen und Teile des Werkes mit einem Chor erarbeiten, der nach meinem Empfinden den Ansprüchen der Partitur nicht gewachsen war (aber unter den gegebenen Umständen gab es für mich „kein Entrinnen“ aus dem Projekt).
Meine Scheu und gar Angst gegenüber dem Werk wurde zu Beginn der Einstudierung auch durch das Probenwochenende bestärkt: Es ist bisher das einzige Probenwochenende meines Lebens geblieben, an dem zwischen der Anreise am Freitag und der Abreise am Sonntag keine spürbare qualitative Entwicklung stattgefunden hat: So ratlos wie der Chor am Freitag angereist war, fuhr er auch am Sonntag wieder nach Hause.
Doch der Durchbruch kam in der nächsten regulären Probe! Das am Wochenende gelernte hatte sich gesetzt und plötzlich verstanden die Sänger die „Et vitam“-Fuge! Plötzlich leuchtete im Kyrie das Majestätische durch! Plötzlich fügten sich die heterogen wirkenden Abschnitte des Agnus Dei zu einem großen Ganzen zusammen. Das Konzert wurde schließlich ein Erfolg – und bis heute kennt die Begeisterung des Chores für die Missa solemnis keine Grenzen.

Dieser Text würde natürlich nicht in der Rubrik „Lieblingsstücke“ erscheinen, wenn ich diese Begeisterung nicht seit dem teilen würde. Die Missa solemnis, die Beethoven selbst als sein „größtes Werk“ bezeichnet hat (und in diesem Fall ist die Aussage trotz aggressiver Eigenwerbung Beethovens in der Korrespondenz mit seinen Verlegern durchaus glaubwürdig), ist ein Zeugnis jahrelangen Ringens mit geistlicher Musik, mit liturgischen Texten und deren Übersetzungen und dem ganz persönlichen Zugang zum Glauben. Man spürt diese Auseinandersetzung Beethovens in jedem Takt. Und wie auch in seinem sinfonischen und kammermusikalischen Schaffen ist das Werk völlig neu, ohne jedoch die Gattung musikgeschichtlich ganz aus den Fugen zu heben. Sie ist vielmehr eine Weiterentwicklung und Erhebung des Bestehenden. Und obwohl Beethoven in der Ausdeutung des Textes zum Teil extremste musikalische Unterschiede in kürzester Folge aufeinandertreffen lässt, bleibt das Werk doch in sich ganz geschlossen.

Einmal habe ich gelesen, dass die Missa solemnis von Beethoven ganz bewusst so höchst anspruchsvoll komponiert worden sei, weil ja auch der Glaube (oder die Beschäftigung mit diesem?) jeden Menschen an seine Grenzen führt. Beethoven wollte dies für Ausführende und Publikum direkt greifbar machen.
Es sei dahingestellt, ob dies so zutrifft – in jedem Fall war es sein Ziel „bei den Singenden als Zuhörenden religiöse Gefühle zu erwecken“ – und man darf sagen, dass ihm dies gelungen ist. Die Beschäftigung mit der Missa solemnis vermag einen Menschen zu erheben! So erfüllen sich auch die Worte Beethovens, die er dem Autograph seiner Partitur vorangestellt hat: „Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen.“

Jan Schumacher ist Universitätsmusikdirektor der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Dirigent der Camerata Musica Limburg sowie des Chores der TU Darmstadt. Mit seinen Ensembles erarbeitet er ein breites Repertoire von Gregorianik bis zu Uraufführungen und Jazz, von sinfonischem Orchester bis Big Band und vokaler oder elektronischer Improvisation. Darüber hinaus leitet er Seminare für Sänger, Orchester und Dirigenten in vielen Ländern Europas und weltweit. Für den Carus-Verlag ist Jan Schumacher als Herausgeber und Referent tätig.

Beethoven: Messe in C

Die erste der beiden Messvertonungen Beethovens ist in ihrer subjektiv-bekenntnishaften Tonsprache ausgesprochen modern und zukunftsweisend. Sie erschließt dem liturgischen Text ganz neue Ausdruckswelten. Sie ist keine Vorstufe zur Missa solemnis, sondern ein eigenständiges Werk, das für die Weiterentwicklung der Messenkomposition im 19. Jahrhundert Maßstäbe gesetzt hat.

Beethoven: Missa solemnis

Die Missa solemnis bezeichnete Beethoven mehrfach als sein größtes Werk, welches „von Herzen“ kommend die Menschen berühren und bewegen sollte. Die überlieferten Quellen lassen erkennen, wie intensiv und lange sich Beet­hoven mit der Komposition beschäftigte, um dem Text einen – in seinem Sinne – adäquaten Ausdruck zu verleihen. In ihrem Umfang und musikalischen Anspruch reicht die Missa solemnis weit über das liturgisch Übliche hinaus, die Uraufführung fand nicht ohne Grund in einem Konzertsaal statt. Der Chor übernimmt in dem Werk eine strukturell wesentliche Rolle, hat dabei Partien von hohem Anspruch zu bewältigen.

CD Beethoven: Missa solemnis

Beethoven bezeichnete die Missa solemnis mehrfach als sein größtes Werk, welches die Menschen berühren und bewegen sollte. Lange und intensiv beschäftigte er sich mit der Komposition, die nicht umsonst als bedeutendste Messvertonung des 19. Jahrhunderts gilt.

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