Zur Bearbeitung einer Bearbeitung – Chorfassung von Bachs „Tilge, Höchster, meine Sünden“

Jörn Bartels über seine Chorfassung

Die Musik von Pergolesis Stabat Mater hat mich schon immer fasziniert – besonders der erste Satz mit den Sekund-Reibungen, die den Zuhörer sofort in eine mitleidende Stimmung versetzen. Jean-Jaques Rousseau bezeichnete das Eingangsstück des Stabat Mater als „das vollkommenste und bewegendste Duett, das jemals aus der Feder eines Komponisten geflossen ist“. Andere Musikteile hingegen haben mich an Pergolesis Oper La Serva Padrona erinnert, die ich in meinem Gesangstudium als Sänger in der Opernschule kennengelernt habe. Zudem wusste ich von Bachs viel zu selten aufgeführter Bearbeitung mit neuem Text – eine gereimte Nachdichtung des 51. Psalms: Tilge, Höchster, meine Sünden (Carus 35.302). Deswegen wollte ich diese Musik gerne als evangelischer Kantor aufführen. Als Orgel-Continuospieler hatte ich bereits die sogenannte Wiener Version des Stabat Mater von Pergolesi (Carus 97.003) kennengelernt, in der einige der 13 Sätze für vierstimmigen Chor eingerichtet sind. Dadurch kam ich auf die Idee, einige Teile der Sätze des Bach’schen Tilge, Höchster, meine Sünden für Chor einzurichten, damit auch die Menschen in der Kantorei diese wunderbare und für mich auch einzigartige Musik kennenlernen. Nebenbei bemerkt: Es werden in einer Kleinstadt wie Emmendingen deutlich mehr Zuhörer*innen angelockt, wenn die Sänger*innen der Kantorei ihren Bekanntenkreis motivieren können, zu kommen.

Das Stabat Mater des viel zu früh verstorbenen Giovanni Battista Pergolesi war vielleicht das meistgespielte Werk seiner Zeit – heute würde man sagen: Ein echter Hit. Er war ein Vorreiter des galanten Stils, und hatte so erheblichen Einfluss auf die Komponistengeneration nach Bach, zu der auch Carl Philipp Emanuel Bach gehört. Es spricht für die Neugierde und Lernbereitschaft Johann Sebastian Bachs in seinen späten Lebensjahren (1746/47), dass er sich mit der Bearbeitung von Pergolesis Stabat Mater diesen „unbach’schen“, italienischen Musikstil aneignete.

Für die Bearbeitung bietet sich eine Mischung aus chorischen und solistischen Anteilen (Sopran und Alt) an, weil sich die Musik von Bach/Pergolesi an einigen Stellen gut für eine Chorversion eignet. Das sind besonders die Alla-Breve Sätze 9 und 14, die im sogenannten „Alten Stil“ komponiert sind. An anderen Stellen, die mit Verzierungen, großen Intervallsprüngen und typisch solistischen Manieren einhergehen, verbietet sich hingegen eine Bearbeitung für Chor. Der Sopran wurde in den 4-stimmigen Passagen immer im Original gelassen, die Original-Altstimme wurde in seltenen Fällen in den Tenor versetzt. Der Chor-Tenor orientiert sich an der von Bach hinzugefügten Bratschenstimme, die der Umarbeitung Bachs eine polyphone Dimension verleiht. Der Bass wird dicht an der instrumentalen Bass-Stimme entlanggeführt. So kann einerseits die Substanz des Werkes in seiner Originalgestalt auf weiten Strecken erhalten bleiben und andererseits erhält ein Chor die Möglichkeit, das Tilge, Höchster, meine Sünden klanglich zu bereichern.

Aber was ist mit dem Text? Kann ich diesen von Schuld und Sünde durchtränkten Text meiner aufgeklärten Zuhörer*innenschaft zumuten? Nach meiner Meinung konnten viele Menschen mit einem falsch verstandenen Schuld- und Sünde-Verständnis ihr volles Potenzial nicht leben, sind quasi ausgebremst worden. Oft höre ich von strenggläubig erzogenen Freunden, dass es sie große Kraftanstrengungen gekostet hat, dieses Konzept abzulegen.

Ich arbeite zum Glück mit einer tiefenpsychologisch geschulten Pfarrerin zusammen, die die Sünde als ein Herausfallen aus der Liebe Gottes und der Menschen beschreibt. Das meint dann auch: Wer verlernt hat zu lieben – Gott, sich selbst und andere – der lebt in Sünde und den bestraft das Leben. So betrachtet konnte ich dieses Werk dann in einem Karfreitags-Gottesdienst aufführen.

Kirchenjahreszeitlich ist diese Musik nicht festgelegt – eine Aufführung in der Passionszeit bietet sich an. Ich glaube, dass es immer sinnvoll ist, einen derartigen Text entweder durch Kommentare im Gottesdienst oder durch deutende Texte im Konzertprogramm zu relativieren und zu erläutern. So werden alte theologische Texte mit zeitgemäßen Menschenbildern kompatibel. So kann diese wunderbare Musik singend und hörend einem größeren Kreis zugänglich gemacht werden.

Tilge, Höchster, meine Sünden
Psalm 51 nach dem „Stabat Mater“ von Giovanni Battista Pergolesi. Chorfassung von Jörn Bartels
Carus 35.302/50

Jörn Bartels ist Bezirkskantor in Emmendingen bei Freiburg. Neben klassischen Werken wie Mozarts Requiem, Bachs Weihnachtsoratorium und Mendelssohns Elias stehen in der Kantorei immer wieder moderne Kompositionen auf dem Programm, etwa die Chichester Psalms (L. Bernstein), Magnificat, the groovy version (Chr. Schönherr) und die sogenannte Tango-Messe (Palmeri).

 

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