Das Requiem – und sonst?
Vokale Kirchenmusik von Giuseppe Verdi
Die Messa da Requiem ist eines der eindrucksvollsten Werke Verdis, aufgrund seiner Besetzungsgröße jedoch nur selten im Original realisierbar. Neben diesem Meilenstein hat Verdi noch einige weitere geistliche Werke geschaffen.
Es muss ein eindrucksvolles Erlebnis gewesen sein, als am 22. Mai 1874 im Mailänder Dom erstmals die Messa da Requiem von Giuseppe Verdi erklang. Über 200 Chorsänger*innen und Instrumentalist*innen füllten dieses riesige Gotteshaus mit Musik. Und sie sorgten dafür, dass die klanglichen Extreme der Partitur mit vierfach geteilten Bläsern (von der Piccoloflöte in der Höhe bis zur Oficleïde in der Tiefe) in ihrer ganzen Bandbreite ausgelotet wurden.
Hervorgegangen war die Komposition aus dem gescheiterten Projekt der Messa per Rossini, mit der Verdi und zwölf italienische Komponistenkollegen dem 1868 verstorbenen Gioacchino Rossini ein Denkmal setzten wollten. Verdis Beitrag zu diesem Werk, die Vertonung des abschließenden Responsoriums Libera me, bildete dann den Grundstein für seine eigene, vollständige Requiemvertonung, die er 1873 begann. Von seinem Verleger Giulio Ricordi ließ er sich „französisches Musikpapier von exzellenter Qualität, schwer und stark liniert“, schicken und füllte insgesamt rund 400 Seiten mit der Niederschrift der Partitur. Im April 1874 war der letzte Teil des Manuskripts, das Offertorio, beendet. Klavierauszug und Stimmen wurden bereits erstellt, aber die Chorproben hatten noch nicht begonnen. Die Suche nach einem geeigneten Aufführungsort gestaltete sich schwierig, da es Frauen nicht gestattet war, in der Kirche zu singen. Ebenso war die Mitwirkung eines Orchesters dort nicht erlaubt. Schließlich einigte man sich darauf, dass die beiden Solistinnen der Uraufführung, Teresa Stolz und Maria Waldmann, sowie die Chorsängerinnen verschleiert hinter einem Gitter auftraten.
Julia Rosemeyer ist seit 2006 Lektorin im Carus-Verlag und betreut vor allem Urtext-Editionen, u.a. war sie zuständig für die Edition des Verdi-Requiems.
Auf die Aufführung in San Marco folgten weitere unter der Leitung des Komponisten in der Mailänder Scala, an der Pariser Opéra-Comique, in der Londoner Royal Albert Hall und der Wiener Hofoper. (Eine dieser Wiener Aufführungen hörte auch Johannes Brahms.) Dass das deutsche und das italienische Verständnis von Kirchenmusik sich zu dieser Zeit stark voneinander unterschieden, wird deutlich in einer Äußerung Eduard Hanslicks anlässlich der Wiener Aufführungen 1875:
„Was in Verdi’s Requiem zu leidenschaftlich, zu sinnlich erscheinen mag, ist eben aus der Gefühlsweise seines Volkes heraus empfunden, und der Italiener hat doch ein gutes Recht, zu fragen, ob er denn mit dem lieben Gott nicht Italienisch reden dürfe?“
(Musikalische Stationen, Verdis Requiem, Berlin 1880, S. 5)
Die umfangreiche Besetzung des Requiem erschwert allerdings bis heute dessen Realisierung. Daher sind zwei Bearbeitungen bei Carus erschienen, die das Werk für kleinere Chöre aufführbar machen und die instrumentalen Kräfte bündeln. Diejenige von Joachim Linckelmann für Kammerorchester reduziert die Bläser auf sieben einfach besetzte Stimmen, mit Alternativen für den Einsatz der Ferntrompeten. Die Bearbeitung von Michael Betzner-Brandt geht noch weiter und arrangiert den Orchesterpart für ein fünfköpfiges Ensemble (Klavier, Horn, Kontrabass, Marimba (+ Gran Cassa), Pauken), wobei insbesondere die Marimba als wahrer Klangakrobat verschiedenste Instrumentalfarben imitiert. Der Chor übernimmt als Summchor zusätzliche Partien im Dies irae (Streicher- bzw. Holzbläseradaption für „Quid sum miser“ und „Lacrimosa“).
Giuseppe Verdi Messa da Requiem
- Partitur: Carus 27.303
- Carus Choir Coach: Carus 27.303/91
- App: Carus 73.313
Neben diesem Meilenstein der Musikgeschichte hat Verdi nur wenige geistliche Kompositionen geschaffen. Darunter jedoch interessante Stücke, die oft aus dem Blickwinkel geraten.
In seiner Jugendzeit entstanden eine nahezu in Vergessenheit geratene Messa di Gloria (um 1833) und ein Tantum ergo (1836) für Tenor solo, Orchester und Orgel, die er noch vor seiner ersten Oper komponierte und in der Kirche San Bartolomeo in Busseto aufführte. Verdi distanzierte sich später von diesen Frühwerken und bis ins vorgerückte Alter komponierte er zunächst keine Kirchenmusik mehr.
In seinen Opern finden sich jedoch zahlreiche Anspielungen auf religiöse Kontexte sowie Szenen, die in Kirchen oder Klöstern spielen. Immer wieder lässt er die Protagonisten, meist in Gefahrensituationen, ihre Stimme zu Gott erheben. Zu diesen Arien, die in der Tradition der Preghiera (ital. »Gebet«) stehen, kann u.a. die Arie der Lida „Deus meus – O tu che desti il fulmine“ für Sopran, Chor und Orchester aus der Oper La battaglia di Legnano gezählt werden.
Pater noster für fünfstimmigen Chor a cappella und Ave Maria für Solosopran und Streicher entstanden nach einer längeren schöpferischen Pause offenbar ohne äußeren Anlass. Beide wurden 1880 gemeinsam uraufgeführt, bei einem Konzert anlässlich der feierlichen Enthüllung einer Büste Verdis im Foyer der Mailänder Scala. Ihr Titelzusatz „volgarizzato da Dante“ gibt an, dass es sich bei den Textvorlagen um italienische Übersetzungen der lateinischen Liturgie handelt, wobei sich die Zuschreibung an Dante Alighieri (1265–1321) als Irrtum herausgestellt hat. Das verwendete Versmaß ist in beiden Fällen der elfsilbige Endecasillabo („O Padre nostro, che ne’ cieli stai“ bzw. „Ave regina, vergine Maria“). Pater noster zeigt Verdis Kenntnis der klassischen Vokalpolyphonie, die er mit harmonischen Freiheiten des 19. Jahrhunderts anreichert. (Er bestand seinerzeit auf einer Veröffentlichung in alten Schlüsseln!) Ave Maria – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Satz aus den Quattro pezzi sacri – erschien zunächst nur als Klavierauszug und wurde daher bis ins 20. Jahrhundert zumeist mit Klavier aufgeführt, wodurch die prononcierte Behandlung der Streicher (u.a. dreifach geteilte Celli) verloren ging.
Giuseppe Verdi Messa da Requiem
- Bearbeitung für kleines Ensemble (arr. M. Betzner-Brandt): Carus 27.303/50
- Bearbeitung für Kammerorchester (arr. J. Linckelmann): Carus 27.308
Schon der Name Quattro pezzi sacri (Vier geistliche Stücke) macht deutlich, dass hier Ähnliches zusammengestellt wurde – ähnlich in Bezug auf den sakralen Charakter der Stücke, ohne dass diese als Zyklus konzipiert worden wären oder eine einheitliche Besetzung aufweisen. Die beiden solistischen A-cappella-Kompositionen (Ave Maria und Laudi alla Vergine Maria) sowie die beiden größeren, orchesterbegleiteten Sätze (Stabat Mater und das doppelchörige Te Deum), die heute am häufigsten zu hören sind, entstanden unabhängig voneinander zwischen 1889 und 1897. Auf Wunsch von Verdis Verleger Ricordi wurden sie 1898 nach einer Revision gemeinsam veröffentlicht.
Ave Maria für vier gemischte Stimmen, eine Studie über die „enigmatische“ Tonleiter, vertont einen lateinischen Text, Laudi alla Vergine Maria (Lobgesang auf die Jungfrau Maria) für vier Frauenstimmen wiederum einen italienischen, nicht-liturgischen Text, der diesmal tatsächlich von Dante Alighieri stammt. Die Entstehung von Te Deum und Stabat Mater, den beiden letzten Werken Verdis, mag in Zusammenhang mit dem nahenden Tod seiner Frau Giuseppina stehen. Sie haben trotz großer dynamischer Bandbreite einen eher kontemplativen, intimen Charakter. Verdi soll die Manuskripte für die Drucklegung „mit unermesslichem Schmerz“ aus der Hand gegeben und später darum gebeten haben, dass ihm die Partitur des Te Deum ins Grab gelegt werde.
Giuseppe Verdi Quattro pezzi sacri
Carus 27.500
Unter den Albumblättern findet sich schließlich noch ein weiteres Spätwerk mit liturgischem Bezug, „Pietà, Signor, del nostro error profondo“ für Sopran und Klavier (1894). Ihm liegt ein Text von Verdis Librettisten Arrigo Boito (1842–1918) nach dem Agnus Dei des Messordinariums zugrunde.
Mit den Quattro pezzi sacri schließt sich im späten Schaffen Verdis ein Kreis. Er kehrt am Ende seines Lebens zur Kirchenmusik zurück, die den Ausgangspunkt seiner musikalischen Tätigkeit gebildet hatte, als er mit zwölf Jahren Organist an der Dorfkirche von Le Roncole wurde.
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