Klingende Wortkunst
Ein Leben im Dienst lutherischer Kirchenmusik: Georg Philipp Telemann (1681–1767)
Telemann ist, mit Schütz und Bach, einer der Großen der evangelischen Kirchenmusik. Seine Kantaten sind von lutherischer Theologie und Predigttradition durchdrungen; und wie Bach steht er fest auf dem Boden der lutherischen Orthodoxie.
„Dieses aber weiß [ich] wol / daß ich allemahl die Kirchen-Music am meisten werth geschätzet / am meisten in andern Autoribus ihrentwegen geforschet / und auch das meiste darinnen ausgearbeitet habe“. Gefragt, wer dies wohl von sich gesagt habe, würde man spontan vielleicht an Heinrich Schütz oder an Johann Sebastian Bach denken, nicht gleich aber an Georg Philipp Telemann. Denn nachdem er im 19. Jahrhundert tief in den Schatten Bachs gerückt und fast vergessen worden war, trat er mit der Renaissance der Alten Musik im 20. Jahrhundert vor allem als Instrumentalkomponist ins Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit. Das Vokalwerk dagegen verblieb noch lange im Schatten und folgte der Entwicklung nur zögernd. Dabei steht es dem Instrumentalwerk an Kunstrang und Vielfalt nicht nach. Und in ähnlicher Vielseitigkeit wie Telemanns Instrumentalschaffen umfasst es alle damals gebräuchlichen Gattungen der weltlichen und geistlichen Musik vom Generalbasslied bis zur Oper und vom schlichten Choralsatz bis zum großangelegten Oratorium.
G. Ph. Telemann
Missa brevis „Christ lag in Todes Banden“
- Partitur: Carus 39.098
- Chorpartitur: Carus 39.098/05
- Orchestermaterial: Carus 39.098/19
Dabei liegt der Schwerpunkt des Vokalschaffens eindeutig auf dem Gebiet der Kirchenmusik. Im Zentrum steht hier die Gattung der Kantate, die mit über 1.300 erhaltenen Werken das Hauptcorpus des Telemann’schen Schaffens bildet. Ergänzt wird dieser Bestand durch eine Vielzahl von Motetten, Psalmen, Passionen, Messen und dergleichen. Vieles ruht noch in den Archiven, doch auch die zahlreichen Neuausgaben bieten bereits ein weites Feld für musikalische Schatzsucher und Entdecker.
Als der Hamburgische Musikdirektor am 25. Juni 1767 starb, hochberühmt und allseits verehrt, hatte er ein Dreivierteljahrhundert Musikgeschichte erlebt und mitgestaltet. Sein langes, von ihm selbst teils in launigen Worten beschriebenes Leben beginnt in Magdeburg, wo er am 14. März 1681 in einem evangelischen Pfarrhaus als sechstes von sieben Kindern zur Welt kommt. Ohne Förderung durch das Elternhaus – der Vater war bereits 1685 gestorben – entfaltet sich seine musikalische Begabung früh und gleichsam in Wildwuchs. Zur Freude der Erwachsenen musiziert er auf „Violine, Flöte und Cither, … ohne zu wissen, ob Noten in der Welt wären“. Auf eigene Faust beginnt er zu komponieren, Motetten zuerst, dann bald auch anderes, und als Zwölfjähriger führt er eine Oper auf. Da freilich hält die Mutter die Zeit für gekommen, die Erziehung des Jungen in andere Bahnen zu lenken, und übergibt ihn der Obhut des Superintendenten Calvör in Zellerfeld im Harz, der ihn als Privatlehrer vielseitig fördert. Aber auch hier musiziert und komponiert Telemann weiter. Und nicht anders nach dem Wechsel an das Gymnasium Andreanum in Hildesheim, wo er die Schuldramen des Rektors Lossius in Musik setzt und – mit ausdrücklicher Erlaubnis auch von evangelischer Seite − die Kirchenmusik des katholischen Klosters St. Godehard betreut.
G. Ph. Telemann
Missa brevis zum Pfingstfest über „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“
- Partitur: Carus 39.099
- Klavierauszug: Carus 39.099/03
- Orchestermaterial: Carus 39.099/19
1701 schreibt Telemann sich an der Leipziger Universität als Jurastudent ein. Doch aus dem Studium wird nicht viel: Bald schon komponiert er regelmäßig Gottesdienstmusik für die Thomaskirche, 1702 gründet er ein studentisches Collegium musicum und übernimmt die Leitung der Leipziger Oper, 1704 wird er Musikdirektor der Neukirche. Dann folgen Hofkapellmeisterjahre beim Reichsgrafen Promnitz in Sorau und am Sachsen-Eisenachischen Hof. 1712 wird er städtischer Musikdirektor in Frankfurt am Main, wo er die beiden Hauptkirchen allwöchentlich mit Gottesdienstmusik versieht, aber auch ein Collegium musicum gründet und öffentliche Konzerte veranstaltet. 1721 geht er in gleicher Funktion nach Hamburg, wo er alle fünf Hauptkirchen musikalisch zu betreuen hat, erneut ein Musikkollegium gründet, Konzerte veranstaltet und zu alledem noch die Leitung der Oper übernimmt. In der Folgezeit publiziert er überdies fleißig eigene Werke, meist Instrumentalmusik, gibt aber auch – eine verlegerische Pioniertat − vier Kantatenjahrgänge und eine Passion im Druck heraus. Bis ins hohe Alter bleibt er umtriebig und als Komponist schöpferisch aktiv mit der ihm eigenen Verbindung aus Leichtigkeit des Schreibens und künstlerischer Ernsthaftigkeit.
Telemanns kirchenmusikalisches Œuvre ist bis heute kaum zu überblicken. Zu der erwähnten Gattungsvielfalt tritt eine beträchtliche stilistische Farbigkeit. Traditionen der deutschen Ein Leben im Dienst lutherischer Kirchenmusik: Georg Philipp Telemann (1681–1767) Telemann ist, mit Schütz und Bach, einer der Großen der evangelischen Kirchenmusik. Kirchenmusik verbinden sich mit konzertanten Stilzügen italienischer Provenienz, vor allem aber scheint in vielen Werken der Einfluss der von Telemann schwärmerisch geliebten französischen Musik auf. Zugleich spiegelt sich in Telemanns Kirchenmusik die Entwicklung des Zeitgeschmacks in den Jahrzehnten vom Hochbarock der Jahre um 1700 bis in die Zeit des „empfindsamen“ Stils und der Vorboten der Epoche Haydns und Mozarts.
G. Ph. Telemann
Biblische Sprüche 1
- Sammlung: Carus 39.101
- Einzelstimme Violine I: Carus 39.101/11
- Einzelstimme Violine II: Carus 39.101/12
- Einzelstimme Viola: Carus 39.101/13
- Einzelstimme Violoncello: Carus 39.101/14
G. Ph. Telemann
Biblische Sprüche 2
- Sammlung: Carus 39.102
- Einzelstimme Violine I: Carus 39.102/11
- Einzelstimme Violine II: Carus 39.102/12
- Einzelstimme Viola: Carus 39.102/13
- Einzelstimme Violoncello: Carus 39.102/14
Telemann ist, mit Schütz und Bach, einer der Großen der evangelischen Kirchenmusik. Seine Kantaten sind von lutherischer Theologie und Predigttradition durchdrungen; und wie Bach steht er fest auf dem Boden der lutherischen Orthodoxie. Die intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dem Liederdichter und Melodienschöpfer Martin Luther, der man bei Bach in den vierstimmigen Choralsätzen ebenso wie in den kunstvoll ausgearbeiteten Choralkantaten begegnet, findet bei Telemann, der die Choräle stets ganz schlicht und gemeindenah setzt, zwar kaum eine Entsprechung. Dass er gleichwohl die Lieder seiner Kirche geliebt hat, bezeugt seine 1730 gedruckte Sammlung mit über 250 Kirchenliedsätzen. Musikalische Spuren besonderer Art haben einige Lieder der Reformationszeit bei ihm in lateinischen Kyrie-Gloria-Messen hinterlassen, in denen er die Melodiezeilen im „alten“ strengen Kontrapunkt durchführt, unter ihnen die Luther-Lieder Christ lag in Todes Banden (Carus 39.098) und Komm, Heiliger Geist, Herre Gott (Carus 39.099). Die ganze Sprachmacht Luthers aber kommt, wie bei Bach, vor allem in den Bibelversen der Kantateneingangschöre zur Geltung. Ausgedehntere Texte aus der Luther-Bibel finden sich darüber hinaus in Telemanns deutschen Psalmvertonungen, für die es wiederum kein Pendant bei Bach gibt und in denen Luthers Wortkunst sich eindrücklich mit der Telemann eigenen Kunst affektiven Ausdrucks und musikalischer Bildlichkeit verbindet.
Es ist die Saat der Reformation Martin Luthers, die in Telemanns Kirchenmusik reich und vielfältig aufgeht.
Klaus Hofmann
Prof. Dr. Klaus Hofmann studierte Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literaturgeschichte und Urheber- und Verlagsrecht in Erlangen und Freiburg. 1978 wurde er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen, später dessen stellvertretender Direktor und hauptamtlicher Leiter.
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