„anrührende Empfindsamkeit, Verletzbarkeit und Zweifel“
Denis Rouger über Faurés Requiem
50 Jahre Carus – 50 Jahre Leidenschaft für die Chormusik, die wir mit Ihnen teilen. Im Carus-Jubiläumsjahr stellen prominente Chorleiter*innen jeden Monat im CARUS Blog ihr persönliches Highlight aus fünf Jahrhunderten Chormusik vor.
Das Requiem op. 48 (Carus 27.311) ist wohl dasjenige Werk, dem Gabriel Fauré seine weltweite Bekanntheit verdankt. Er war selbst erstaunt über den unmittelbaren Erfolg des Werkes und freute sich darüber in geradezu kindlicher Art und Weise, wie über eine gelungene Überraschung.
Aus verschiedenen Gründen liegt mir dieses Meisterwerk, das einerseits die Genialität seines Schöpfers, andererseits aber auch dessen anrührende Empfindsamkeit, Verletzbarkeit und Zweifel widerspiegelt, ganz besonders am Herzen. Ich hatte das Glück, als Maître de chapelle an der Kirche Sainte-Madeleine wirken zu dürfen – also als (bescheidener und in großen Fußstapfen wandelnder) Nachfolger von Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré. In dieser Funktion hatte ich Zugang zu einigen originalen Abschriften des Requiem mit handschriftlichen Anmerkungen Faurés, ich durfte das Werk in seiner ursprünglichen Akustik dirigieren und dabei den ganz spezifischen Orgelklang der Madeleine erfahren. Außerdem konnte ich die besondere Stimmung der Liturgie an diesem Ort nachfühlen und versuchen, den Reichtum dieses außergewöhnlichen Werkes, das mich zutiefst berührt, zu ergründen.
Diese Totenmesse ist in mehr als einer Hinsicht außergewöhnlich: Fauré hat sie aus eigenem Antrieb geschrieben, ohne einen bestimmten Auftrag oder Anlass. Er arbeitete daran über einen längeren Zeitraum hinweg, wie ein Künstler sich einem Werk, das ihm besonders am Herzen liegt, immer dann widmet, wenn es ihm seine anderen Projekte erlauben. Er wollte damit die Musik, die üblicherweise an der Madeleine bei Begräbnissen erklang und derer er allmählich überdrüssig wurde, erneuern. Doch die liturgischen und musikalischen Zwänge waren groß und häufig nicht vereinbar mit dem schöpferisch-freien Genius Faurés. Nachdem er die ersten Ausschnitte des Requiem im Rahmen einer Totenmesse im Jahr 1888 gehört hatte, beklagte sich der Priester der Kirche, der den Wert des Meisterwerks verkannte, heftig über diese in seinen Augen überflüssige Musik.
Das Requiem sollte den Tod auf eine ungewöhnliche Art beschreiben: als einen sanften Übergang, eine glückliche Erlösung, eine Hoffnung auf Heil im Jenseits … ohne Theatralik und Dramatik, sondern im Gegenteil als herzerwärmender Trost, sanft und empfindsam wie Fauré selbst (so seine eigenen Anmerkungen). Die Darstellung des Todes entbehrt hier beinahe jeglicher Furcht: Der Trost siegt über die Angst.
Ebenso neuartig wie dieses Verständnis des Todes ist die Besetzung der Originalfassung: mit einem auffälligen Kontrast zwischen den tiefen Stimmen (Kontrabässe, Celli und geteilte Bratschen, keine Tutti-Violinen), Pauken sowie Hörnern und den hellen Stimmen (z. B. Harfe). Die Orgel ist an beiden Klangblöcken beteiligt mit tiefen Registern (z. B. im „Introït“) oder mit hellen (im „In Paradisum“). Die tiefen Klangfarben vermitteln Wärme und Sanftheit, können aber auch die Erde symbolisieren, während die höheren Töne für das himmlische Licht stehen. Diese Orchestrierung bringt auch die Knabenstimmen im Chor mit ihrer strahlend-klaren Klangfarbe zur Geltung (die romanische Tradition untersagte zu dieser Zeit noch die Mitwirkung von Frauenstimmen in Chören), die durch ihre Reinheit den Übergang der Seele in den Himmel versinnbildlicht.
Die Botschaft des Werks erschließt sich somit bereits durch den Gesamtklang. Dies ist sicherlich auch der Grund, weshalb das Requiem sofort großen Anklang beim Publikum fand, das die über die Worte hinausgehende Tiefe, die Schönheit und die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks zu erspüren vermochte.
An der Kirche Sainte-Madeleine gruppieren sich Chor und Instrumente hinter der monumentalen Altarskulptur rund um die Chororgel. Dies lässt um die Musizierenden herum eine ganz besondere Stimmung entstehen, denn sie können weder das Kirchenschiff noch die Gemeinde sehen. Die Kreisbogenform des Chors und des Chorgestühls sowie die Mischung aus Stein und Holz erzeugen indes eine sehr volle, runde Akustik, die dem sanften, wiegenliedartigen Charakter des Requiem entgegenkommt. Man fühlt sich umgeben, ja umarmt von den Klängen.
Die symphonische Fassung des Requiem (Carus 27.312), die einige Jahre später zwischen 1898 und 1900 im Auftrag des Verlegers Hamelle entstand, entspricht eher der weniger nachhallenden Akustik großer Konzertsäle. Zwischen 1888 und 1898 hatte Fauré bereits mehrere Orchestrierungsversuche unternommen, vielleicht mit dem Ziel, diese besondere und sanfte Klangfülle der Madeleine durch die Instrumentierung auszudrücken. Die Ergänzung von Tutti-Violinen beispielsweise kann dazu dienen – wenn ihr Einsatz wohldosiert ist – die weiche, abgerundete Klang-Aura, derer das Werk bedarf, zu erschaffen.
Sicherlich ist es interessant, die verschiedenen Fassungen des Requiem zu kennen, wenn man dieses Werk begreifen will. Ob man aber nun eine der frühen, intimeren Fassungen oder die symphonische Version von 1900 wählt: das Wichtige ist es, den Geist der Komposition zu erfassen, der trotz ihrer Feinheit und ihrer Pastelltöne eine überwältigende Ausdruckskraft entspringt: Manchmal werden die wichtigsten Dinge in der Ruhe und Sanftheit gesagt.
Übersetzung: Barbara Großmann
Denis Rouger wuchs als Sohn einer Musikerfamilie in Paris auf. Seit April 2011 ist er Professor für Chordirigieren an die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Der von ihm im Herbst 2011 gegründete Kammerchor der Musikhochschule gewann 2014 den Ersten Preis beim Internationalen Chorwettbewerb in Mosbach. In Zusammenarbeit mit Carus ist das Chorbuch Französische Chormusik (Carus 2.311/05) erschienen sowie zwei CDs (Carus 83.495 und Carus 83.514) mit dem 2016 von Denis Rouger gegründeten figure humaine kammerchor.
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