Bachs kleine Herkules-Oper
Lasst uns sorgen, lasst uns wachen BWV 213
Es gibt viel zu entdecken, wenn man sich auf die berühmten Parodievorlagen von Bachs Weihnachsoratorium einlässt! Wir alle kennen den Text des Eingangschores zur Musik auf den Geburtstag der sächsischen Kurfürstin Maria Josepha vom Dezember 1733, der uns die Paukenschläge erklärt, mit denen Bach 1734 sein Weihnachtsoratorium eröffnet wird: „Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten“. Und wir alle nehmen jedes Jahr wieder wahr, welch Geniestreich Bach mit diesem Anfang gelungen ist, ganz losgelöst von der recht banalen Verbindung zum Ursprungstext. Jüngst erschienen bei Carus ist der zweite wichtige „Steinbruch“ für das Weihnachtsoratoriums, die Kantate Lasst uns sorgen, lasst uns wachen. Herkules auf dem Scheideweg BWV 213. Der Titel stammt übrigens vom Textdruck; Bach selbst schreibt nur „Dramma per musica“ – eine damals nicht ungewöhnliche Bezeichnung für eine Oper.
Anders als Tönet, ihr Pauken BWV 214 gibt es in der Kantate nicht bloße Huldigung, sondern eine Handlung: Die bekannte Geschichte vom jungen Herkules, der sich an einer Weggabelung entscheiden muss zwischen den Verlockungen des Lasters und den Verheißungen der Tugend – und natürlich die Tugend wählt. Viele bildliche Darstellungen dieses mythologischen Sujets sind überliefert. Auch als Opera seria hat sie gedient (Alcide al bivio, Opernlibretto von Metastasio, vertont u. a. von Hasse und Paisiello). Der Mittelteil von Bachs Kantate entspricht denn auch einer kleinen Barock-Oper, in der neben Herkules natürlich die Tugend und die Wollust auftreten; Merkur verkündet am Ende Herkules Wahl. Auch das aus dem Weihnachtsoratorium bekannte Echo (Aria „Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen“) fehlt nicht: Es ist Ratgeber bei Herkules‘ schwerer Wahl. Der eigentliche Anlass der Aufführung – der elfte Geburtstag des sächsischen Kronprinzen – wird nur im letzten Rezitativ und in den beiden die Kantate umrahmenden Chören thematisiert: Natürlich steht der junge Herkules für den jungen Kronprinzen und natürlich hat auch dieser sich längst für die Tugend entschieden.
Johann Sebastian Bach
Lasst uns sorgen, lasst uns wachen
Herkules am Scheideweg
(Dramma per musica)
BWV 213, 1733
Anders als das Publikum 1733, das sich Anfang September im Zimmermann’schen Kaffee-Garten vor den Toren Leipzig versammelt hatte, um der Geburtstagsmusik zu lauschen (und möglicherweise einer szenischen Darstellung zu folgen? Wir wissen es nicht), können wir die Kantate nicht mehr unvoreingenommen hören: Fast alles ist bekannte Musik! Und immer nehmen wir fasziniert und sprachlos zur Kenntnis, wie anders diese so wunderbar zu den Texten des „WO“ passende Musik ursprünglich war. Zum Beispiel, wenn Herkules abwehrend der Wollust entgegentritt: „Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen“ („Bereite dich Zion mit zärtlichen Trieben“), ja der Wollust ein „ich mag nicht, ich will nicht“ entgegen schleudert („den Schönsten, den Liebsten“). Es gibt viel zu entdecken in dieser ‚kleinen Oper‘. Durch ihre zeitlose Handlung gehört BWV 213 zu den besonders attraktiven der weltlichen Kantaten Bachs, die sich z. B. auch zu einem Chorjubiläum wunderbar aufführen lässt. Die Rahmenchöre sind so voller musikalischer Kraft, dass man am Ende auch Bachs obligatorisches „blühe, holder Friederich“ gerne überhört.
Dr. Uwe Wolf ist als Musikwissenschaftler vor allem im 17. und 18. Jahrhundert zuhause. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von der Zeit Monteverdis und Schütz über Bach und die Generation der Bach-Söhne und -Schüler bis hin zur Wiener Klassik. Seit Oktober 2011 leitet er das Lektorat des Carus-Verlags. Zuvor war er über 20 Jahre in der Bach-Forschung tätig.
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