Inspirierend und aufführungsorientiert
Alon Schabs neuer Ansatz für Händels Coronation Anthems
Georg Friedrich Händel komponierte die Coronation Anthems im Jahre 1727.
Coronation Anthems I-IV
Urtext von Händel, für Aufführungen optimiert von Alon Schab. Auch einzeln erhältlich.
Carus 55.258/50
Händels festliche Coronation Anthems Zadok the priest, Let thy hand be strengthened, The King shall rejoice und My heart is inditing, die seit Jahrhunderten während der feierlichen Krönungszeremonie in Großbritannien erklingen – und darüber hinaus von Chören auf der ganzen Welt geliebt werden! – sind jetzt auch im Carus-Verlag erhältlich. Der Herausgeber dieser wunderbaren Musik, der israelische Musikwissenschaftler Alon Schab, über die Herausforderung, Händels Gelegenheitskomposition in einer zeitgemäßen, praxisorientierten und gleichzeitig wissenschaftlich fundierten Ausgabe vorzulegen.
Die Krönung von König Charles III. im Mai 2023 hat einmal mehr die zeitlose Qualität von Händels Coronation Anthems, die Händel ursprünglich für die Krönung von George II. im Jahr 1727 in der Westminster Abbey komponiert hat, unter Beweis gestellt. Wie auch andere Carus-Ausgaben ist diese Neuedition das Ergebnis sorgfältiger Recherchen anhand der Originalquellen. Was sie aber von den bislang erhältlichen Ausgaben der Krönungshymnen abhebt, insbesondere in Bezug auf das weithin akzeptierte Konzept des Urtextes, ist die Art, in der sie die Primärquelle – Händels Autograph – behandelt. Der Edition liegt die Arbeitshypothese zugrunde, dass Händels Autograph manche Details enthält, die zwar im konkreten Aufführungskontext 1727 von Bedeutung waren, die aber nicht zwangsläufig als Urtext kanonisiert werden müssen. Das Ergebnis erlaubt unserer Ansicht nach einen klareren Einblick in Händels direkten und kraftvollen Stil, mit dem er Gelegenheitsmusik für den Hof schrieb.
Grundsätzlich ist die Quellenlage für die vier Anthems nicht allzu kompliziert: Händels Autograph ist in den Sammlungen der British Library und steht auf der Website der Bibliothek in hochauflösenden Scans frei zum Studium zur Verfügung. So wie viele andere Händel-Autographen ist das Manuskript für eine Aufführung nicht unmittelbar zu verwenden. Doch es enthält alle notwendigen Informationen, anhand derer der Komponist oder ein beauftragter Schreiber eine vollständige Dirigierpartitur erstellen konnten. Und tatsächlich hat Händel – oder jemand aus seinem Umfeld – aus der Kompositionsvorlage eine solche Partitur angefertigt, die Händel für die Krönungszeremonie verwenden konnte (und wahrscheinlich auch tatsächlich verwendete.) Diese Dirigierpartitur ist heute leider verschollen. Allerdings sind mehrere, z.T. wirklich wunderschöne Abschriften in verschiedenen Bibliotheken erhalten – nicht nur in London, Cambridge und Manchester, sondern auch in Dublin, Hamburg und Austin, Texas. Das Werk ging sogar zu Lebzeiten Händels in Druck –Händels Verleger Walsh gab 1743 eine sehr zuverlässige Partitur der Anthems heraus. Die neue Carus-Ausgabe reiht sich in eine lange, ehrwürdige Tradition von Editionen der Coronation Anthems ein, die bis in die Mitte des 19. Jahrhundert zurückreicht.
Eins haben die erhaltenen Abschriften, Drucke sowie die nachfolgenden wissenschaftlichen Ausgaben gemeinsam: Das Material ist für heutige Aufführungen – in anderen Zusammenhängen, an anderen Orten, mit anderen Stimmlagen oder Stimmtypen oder anderen Begleitinstrumenten – nur begrenzt nutzbar. Genauso wie der Chor beim jüngsten Krönungsgottesdienst 2023 war auch Händels Chor im Jahre 1727 ein Ad-hoc-Ensemble. Er setzte sich aus Sängern zweier Institutionen zusammen und war für sechs- oder siebenstimmigen Gesang vorgesehen.[i] Daher musste er in den ebenfalls zahlreichen Passagen des Werkes für vier oder fünf Stimmen neu ausbalanciert werden, um besser zu klingen. Interessant am Rande: Offenbar arbeitete Händel deutlich flüssiger, wenn er vier- oder fünfstimmig komponierte – das Manuskript zeigt einige Ausbesserungen und Nachkorrekturen in den wenigen sechs- und siebenstimmigen Passagen.
Händels Manuskript ist voll von abrupten Stimmverdopplungen, Einsätzen und Pausen, die sicherstellen, dass die wenigen Tenöre nicht von den vielen Alt- und Bassstimmen übertönt werden, dass die Chorknaben sich in den Klang der älteren Sänger einfügen, und dass der Chor in der reichen Akustik der Westminster Abbey mit den Instrumenten gut zusammenklingt. Viele Passagen enthalten Unisoni zwischen den Stimmen und Anweisungen für einzelne Solisten, bei “riskanten” Einsätzen bestimmte Partien zu verstärken. All dies scheinen Anpassungen gewesen zu sein, die Händel vornehmen musste, um ein optimales Gleichgewicht zwischen den Gesangs- und Instrumentalstimmen in der Westminster Abbey zu erreichen. Die Sänger*innen im Krönungsgottesdienst – ihre Stimmten, Volumen und Klangfarbe – kannte er sehr gut. Wenn Händel im Autograph beispielsweise Namen von bestimmten Basssängern, wie Mr. Wheely und Mr. Bell, am Anfang von My Heart is inditing nennt, oder wenn er angibt, dass die Tenöre am Anfang von Let thy hand be strengthened verdoppelt werden sollen, dann ist klar, dass das von ihm angestrebte Gleichgewicht von ganz bestimmten Umständen abhing. Wenn ein Chor die Anthems heutzutage aufführt, müssen seine Tenöre dann tatsächlich noch verstärkt werden? Und wenn ja, wieviel Verstärkung benötigen sie? Würden zwei zusätzliche Bässe denselben Effekt produzieren, den Händel mit Mr. Wheely und Mr. Bell erreichen wollte? Die Neuausgabe eliminiert diese behelfsmäßigen Anpassungen (die sorgfältig im Kritischen Bericht dokumentiert werden) und offenbart eine Partitur, die Händels vertrautem großen Chorstil erstaunlich ähnlich ist – festlich und klangvoll.
Zusammenfassend stellen die Coronation Anthems eine Herausforderung für alle Herausgeber dar, die eine Ausgabe anstreben, welche sowohl wissenschaftlichen als auch aufführungspraktischen Ansprüchen genügt – ein wesentliches Markenzeichen des Carus-Verlags. Die Neuausgabe nimmt diese Herausforderung an und geht sogar noch einen Schritt weiter. In einer Zeit, in der Musikwissenschaftler*innen und Interpret*innen nur wenige Klicks von den hochauflösenden Scans eines Händel-Autographs entfernt sind, glauben wir, dass eine Edition dieser berühmten vier Anthems sich nicht darauf beschränken kann und sollte, das Autograph wiederzugeben. Sondern sie sollte eine zum Nachdenken anregende, praxisorientierte Partitur bieten. Wer die neue Ausgabe eingehend studiert wird ein tieferes Verständnis für Händels zukunftsweisenden Ansatz in Fragen von Klang und Timbre entwickeln. Händel selbst wäre wahrscheinlich erstaunt, wenn er wüsste, wie sehr seine Coronation Anthems bis heute geschätzt werden – und dass sie auch noch im Jahr 2023 erklingen, wenn englische Monarchen den Thron besteigen!
[i] 12 Knaben im Sopran, 6 Männer im Alt I (unter der Leitung eines siebten Sängers, Francis Hugues), 6 im Alt II (geleitet von John Freeman), 6 im Tenor (geleitet von John Church), 6 im Bass I (geleitet von Samuel Wheely) und 6 im Bass II (geleitet von Bernard Gates).
Zadok the priest
Coronation Anthem I
Carus 55.258/00
Let thy hand be strengthened
Coronation Anthem II
Carus 55.259/00
The King shall rejoice
Coronation Anthem III
Carus 55.260/00
My heart is inditing
Coronation Anthem IV
Carus 55.261/00
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