Reger best practice
Acht geistliche Gesänge in neuem Licht
Seit fast 30 Jahren arbeitet der Dirigent Markus Utz mit dem von ihm gegründeten ensemble cantissimo an außergewöhnlichen Konzertprogrammen. Ein Fokus liegt dabei auf der Kombination von a cappella Chorliteratur mit experimentell arbeitenden Instrumentalist*innen. Dieses Jahr präsentiert Utz mit seinem Ensemble Regers Acht geistliche Gesänge (op. 138, Carus 52.930) und verbindet diese mit Didgeridoo-Improvisationen. Alejandro Blau entlockt dem Didgeridoo technisch gekonnte und sensibel gestaltete Klänge und Rhythmen, die der Chor aufgreift, verarbeitet und den Kompositionen Max Regers gegenüberstellt. Carus-Lektorin Kathrin Schweizer hat sich mit Markus Utz über dieses besondere Projekt unterhalten.
Kathrin Schweizer: Lieber Markus, ich freue mich sehr, dass wir gemeinsam über dein aktuelles Programm mit Alejandro Blau und dem ensemble cantissimo sprechen. Zu Beginn eine ganz simple Frage: Was hat dich dazu bewogen, die Acht geistlichen Gesänge auszuwählen?
Markus Utz: Regers op. 138 bewundere ich seit meinen Anfängen als Chorleiter. Die relativ kurzen Stücke sind wunderbare musikalische Gebete, die Schlichtheit und Tiefe des Ausdrucks meisterlich miteinander verbinden. Zu Regers 150. Geburtstag in diesem Jahr wollten wir dieses wichtige Opus seiner späten Schaffensjahre Musik des Schweizers Frank Martin und Digeridoo-Improvisationen gegenüberstellen, was einerseits unserer Idee nach „unerhörten“ Programmkonzeptionen, aber auch dem diesjährigen Thema des Internationalen Bodenseefestivals „über Grenzen…“ entspricht.
Kathrin Schweizer: „über Grenzen…“ ist ein toller Titel für das Festival, der unglaublich viele Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Eine Grenzüberschreitung in deinem Programm ist ganz klar ersichtlich: die Kombination von a cappella Chormusik und Didgeridoo-Improvisationen von Alejandro Blau. Wie bist du auf diese Idee gekommen und wie sieht die musikalische Zusammenarbeit genau aus?
Markus Utz: Das Repertoire der heutigen klassischen Musikwelt beschränkt sich leider oftmals auf die Wiederholung immer derselben Werke. Das sichere Wiedererkennen des Altbekannten ersetzt dabei für das Publikum das unsicherere Treffen des noch unbekannten Neuen. Es ging mir deswegen bei dieser Programmidee nicht nur um musikalisch-textliche Grenzüberschreitungen, sondern auch um klanglich-improvisatorische Schnittpunkte beim Aufeinandertreffen zweier so verschiedener Genres. Während in den Chorwerken Regers die Harmonie im vertikalen Zusammenklang mehrerer Stimmen dominiert, steht beim Digeridoo der Mikrokosmos eines einzigen Tones und der damit verbundenen Obertöne im Zentrum. Dabei spielt ein unterschiedlicher Zeitbegriff für das Musikerleben eine wesentliche Rolle und wir versuchen deswegen mit Improvisationen, die viel mit aleatorischen Elementen arbeiten, die verschiedenen Stücke im Programmablauf mit fließenden Übergängen zu verbinden und nicht nur gegenüberzustellen.
Kathrin Schweizer: Ich finde diese Idee toll und glaube, dass es gewinnbringend sein könnte, wenn mehr Chöre den Mut für solche Programmideen aufbringen würden! Vor allem den Gedanken des unterschiedlichen Zeitbegriffs finde ich spannend, weil er, meiner Meinung nach, auch einen spirituellen Kontext miteinschließt. Denn das Didgeridoo kommt bei den australischen Aborigenes oft in spirituellen Kontexten zum Einsatz, also in der sogenannten „Traumzeit“. Während der spirituellen Riten der Traumzeit betreten die Teilnehmenden eine Art raum- und zeitlose Welt. Der katholische Ritus (Reger war gläubiger Katholik) ist dagegen eine sehr genau strukturierte Abfolge aus verschiedenen Handlungen. In der Musik spiegelt sich das auf gewisse Art wieder. Spielt die spirituelle Dimension eine Rolle für dich und lässt sich aus dem Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Ansätze eine gemeinsame spirituelle Atmosphäre herstellen?
Markus Utz: Ja, ich finde es sehr spannend, dass sich durch das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Zeitbegriffe in der Musik für den Zuhörer ein gemeinsamer spiritueller Raum öffnen kann, wenn man sich darauf einlassen möchte. In der europäisch geprägten Kultur betrachten wir das musikalische Material meistens durch eine dialektische und evolutionäre Perspektive. Das hat zur Folge, dass innerhalb dieses Denkens das Phänomen „Zeit” als eine fortlaufende Konstante innerhalb einer ablaufenden Komposition gesehen wird und es als langweilig angesehen wird, wenn nichts Neues passiert. Im Übrigen: Reger bezeichnete sich zwar als «katholisch bis in die Fingerspitzen“, doch in seinem Werk spielt der protestantische Choral in Verbindung mit Techniken, die an sein grosses Vorbild Bach anknüpfen, eine wichtige Rolle. Die Heirat mit einer geschiedenen Protestantin hatte für ihn die Exkommunikation zur Folge. Seine Stücke in op. 138 würde ich auch als überkonfessionell ansehen.
Kathrin Schweizer: Das kann ich gut nachvollziehen. Insofern war auch Reger selbst ein Grenzgänger! Und auch im weltgeschichtlichen Kontext ist es spannend, Regers Position etwas genauer unter die Lupe zu nehmen: Er komponierte die Stücke 1914 nach Ausbruch des 1. Weltkriegs. Wenn man das „Kreuzfahrerlied“ und den „Schlachtgesang“ sieht, könnte man Reger einen, zur damaligen Zeit durchaus verbreiteten, Kriegsenthusiasmus vorwerfen. Die Einbettung zwischen „Das Agnus Dei“ und „Wir glauben an einen Gott“, die beide eine enorm sensible und zarte Klangsprache aufweisen, lässt die Entschlossenheit der Kreuzfahrer und der in die Schlacht Ziehenden plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Reger machte sich 1914 durchaus Gedanken, wie er die Wirren der Welt in seiner Musik verarbeiten kann und wie es ihm als Künstler möglich ist, Stellung zu beziehen. Denn tatsächlich gehörte Reger zu den wenigen Intellektuellen, die nicht begeistert in den Krieg zogen. Hat das aktuelle Kriegsgeschehen bei uns in Europa einen Einfluss auf deine Auswahl dieser Stücke gehabt?
Markus Utz: Nein, in diesem Fall war die Programmauswahl hauptsächlich motiviert durch das diesjährige Motto des Internationalen Bodenseefestivals „über Grenzen“. Max Reger war in gewisser Weise ein musikalischer Grenzgänger in der Umbruchszeit zwischen Spätromantik und Neuer Musik. Er wurde sowohl von Arnold Schönberg wie auch Paul Hindemith als Wegbereiter der Moderne sehr geschätzt. Seine anfängliche Kriegsbegeisterung der beiden erwähnten Stücke oder auch in der „Vaterländischen Ouvertüre“ op. 140, gewidmet „Dem Deutschen Heere“, hat sich schnell wieder gewandelt, in dem er ein Requiem für die Gefallenen zu komponieren begann, welches er aber nicht vollendete.
Acht geistliche Gesänge
Max Reger
Carus 52.930
Reger-Werkausgabe, Bd. II/9: Werke für gemischten Chor a cappella II (1904–1914)
Max Reger
Carus 52.816
Im Carus-Verlag ist Regers op. 138 kürzlich in einer fundierten Neuausgabe erschienen, die gemeinsam mit dem Max-Reger-Institut Karlsruhe erarbeitet wurde. Die wissenschaftlich-kritische Ausgabe verbindet gedruckten Notentext mit digitalen Teilen. Acht geistliche Gesänge ist in Band II/9 (Werke für gemischten Chor a cappella II, S. 162–181) oder als praktische Einzelausgabe erhältlich (CV 52.930/00).
Kathrin Schweizer: Ein Grenzgänger zwischen Spätromantik und Neuer Musik – das trifft sicherlich auf sehr viele Werke in Regers – doch sehr heterogenem Œuvre – zu. Vor allem in seinen letzten Schaffensjahren war Reger jedoch sehr um eine neue Schlichtheit bemüht. In dieser Phase entstanden auch die Acht geistlichen Gesänge. Wie würdest du dieses Werk also einordnen? Was daran weist über die Grenzen hinaus und welche musikalischen Merkmale bleiben in der Tradition verankert?
Markus Utz: Ich denke, in diesen Stücken ging es Reger nicht darum, Grenzen auszuloten. Vielmehr zeigt sich darin seine Meisterschaft in der Vereinfachung des Satzes zugunsten größtmöglicher Klarheit und Subtilität – eine bestechende „neue Schlichtheit“, mit welcher der Komponist den Bogen zurück zu seinen früheren Chorwerken schlägt und damit seinem Vorbild J.S. Bach, für ihn „Anfang und Ende von aller Musik“, treu bleibt. Zudem müssen wir bedenken, dass das Jahr 1914 für ihn sehr ereignisreich war. Er erlitt aufgrund seines immensen Arbeitspensums und seiner Alkoholsucht einem Zusammenbruch, kündigte seine Anstellung als Hofkapellmeister in Meiningen und der Erste Weltkrieg brach aus. Die Acht Geistlichen Gesänge, die dann gegen Ende dieses Jahres entstanden, widmete er seinem Hausarzt Prof. Dr. Stinzing. Die Herausgabe verzögerte sich und als man Reger am Morgen des 11. Mai 1916 in seinem Leipziger Hotelzimmer tot auffand, lag eine Korrekturfassung der Acht Geistlichen Gesänge op. 138 auf seinem Arbeitstisch. Aufgeschlagen war der Eingangschor „Der Mensch lebt und besteht nur eine kurze Zeit“ nach Matthias Claudius.
Kathrin Schweizer: Das gibt diesen Stücken natürlich nochmal eine zusätzliche Bedeutungsebene. Spielt all dieses Hintergrundwissen eine große Rolle für dich, wenn du Konzertprogramme für dein Ensemble gestaltest? Und hättest du zuletzt ein paar ganz allgemeine Tipps für das Zusammenstellen abwechslungsreicher und außergewöhnlicher Konzertprogramme?
Markus Utz: Gerade wenn es um ein Themenprogramm mit zusammengestellten Stücken geht, das in sich stringent bleiben soll, ist ein profundes Hintergrundwissen auf verschiedenen Ebenen unabdingbar. Repertoire ist eine Lebensfrage und man sollte immer neugierig bleiben. Um aus dem gewöhnlichen Rahmen herauszugehen, braucht es Offenheit und Mut für neue Ideen. Sei es bei den Konzertorten, der Stilistik der Werke, der gezielten Auswahl der Texte, den verschiedenen Besetzungen (Chor, Solisten und Instrumenten) oder auch dem bewussten Schaffen von Kontrasten.
Vielen Dank, lieber Markus Utz, für das interessante Gespräch! Noch zwei Mal gibt es die Möglichkeit das ensemble cantissimo mit diesem Programm live zu hören und zwar am 30.06. um 19 Uhr im Rahmen der Stunde der Kirchenmusik in der Stiftskirche Stuttgart und am 01.07. um 19.30 Uhr in der Klosterkirche Oberalteich. Der SWR sendet einen Mitschnitt am 7.08. um 13:05 Uhr.
Markus Utz wirkt seit 2007 als Professor für Chorleitung an der Zürcher Hochschule der Künste und seit 2001 als Titularorganist am Konstanzer Münster. Seit 2013 wird er regelmäßig als Gastprofessor an die renommierte School of Music der Yale University eingeladen. Als künstlerischer Leiter des von ihm 1994 gegründeten ensemble cantissimo hat er sich mit neu entdecktem Repertoire und hoch gelobten CD-Einspielungen in der internationalen Chorszene einen hervorragenden Namen gemacht. Markus Utz folgt international regelmäßig Einladungen als Gastdirigent von Rundfunkchören, Jurymitglied und Dozent von Meisterkursen.
Kathrin Schweizer studierte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und ist seit September 2022 Lektorin im Carus-Verlag. Zuvor war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg tätig. Als freischaffende Sängerin musiziert sie mit namhaften Chören und Ensembles.
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