Reich an Schatten und Licht
Leben und Werk Louis Viernes
Am 8. Oktober 2020 feiern wir den 150. Geburtstag des Komponisten und Organisten Louis Vierne, dessen Leben von großen künstlerischen Erfolgen, gleichermaßen aber von gesundheitlichen und menschlichen Schicksalsschlägen geprägt war. Vor allem sein von Geburt an eingeschränktes Sehvermögen war für ihn zeitlebens eine schwere Belastung, der er sein organistisches und kompositorisches Wirken entgegensetzte. In seinem umfangreichen Schaffen nehmen Orgelwerke den größten Raum ein, nicht zu unterschätzen sind jedoch auch seine reizvollen Vokalwerke.
Geboren wurde Louis Vierne beinahe blind. Vielleicht begründete dies seine Sensibilität musikalischen Eindrücken gegenüber. Bereits im Alter von sechs Jahren hatte er – seiner Erinnerung nach – die erste ihn tief berührende Begegnung mit dem Klang der Kirchenorgel. Er erhielt Klavier- wie Orgelunterricht an dem Institut National des Jeunes Aveugles (Nationalinstitut für junge Blinde) in Paris, und eine Operation verhalf ihm zu verbesserter Sehkraft.
Tief beeindruckt vom Orgelspiel César Francks wurde er dessen Schüler am Pariser Conservatoire. Der Unterricht bei dem väterlichen Freund und Gönner endete jedoch bereits nach vier Wochen, als Franck an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb. Seine Nachfolge übernahm Charles-Marie Widor, der Vierne ab 1892 zu seinem Assistenten an der großen Cavaillé-Coll-Orgel von Saint-Sulpice in Paris ernannte. Als eine der größten Orgeln dieser Zeit bot sie ihm eine ausdrucksreiche Inspirationsquelle. Als Widor die Orgelklasse 1896 abgab, um die Kompositionsprofessur zu übernehmen, überging man Vierne zu seinem Leidwesen als Nachfolger. Einstimmig hingegen wählte ihn eine prominent besetzte Jury 1900 als Organisten an Notre-Dame.
Louis Vierne: Pièces de fantaisie op. 51 + 54
Samuel Kummer
CD Carus 83.250
In einem kurzen Filmausschnitt ist Louis Vierne zu sehen, der J. S. Bach’s In Dir Ist Freude BWV 615 auf der Großen Orgel von Notre Dame in Paris spielt. Teil einer Newssendung von 1934 (YouTube).
Nach einigen glücklichen Jahren hatte Vierne in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Schicksalsschläge zu verkraften, die seiner gesundheitlichen Verfassung stark zusetzten: 1906 musste er den Orgeldienst wegen eines komplizierten Beinbruchs ein halbes Jahr aussetzen und seine Pedaltechnik neu erlernen. Seine 1899 geschlossene Ehe mit der Sängerin Arlette Taskin wurde 1909 geschieden. Und wegen der Verschlechterung seines Augenlichts durch den Grünen Star unterzog er sich 1916 in der Schweiz einer Behandlung. Der Erste Weltkrieg brachte den schmerzhaften Verlust seines Sohnes. Und auch seine geliebte Orgel von Notre-Dame wurde durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen. Auf Konzertreisen in Europa, Kanada und den USA sammelte Vierne in den 1920er-Jahren Geld für deren Renovierung. Auf diesen Reisen, auf denen ihn die Sängerin Madeleine Richepin begleitete, wurde er zwar als Komponist und Organist gefeiert, doch empfand er das Reisen selbst als große Last.
Die letzten Lebensjahre Viernes waren belastet durch zunehmende Sehbehinderung, weitere körperliche Gebrechen und Depressionen. Während eines Orgelkonzerts am 2. Juni 1937 in Notre-Dame ereilte ihn ein Schlaganfall und er verstarb. Der Trauergottesdienst fand dort wenige Tage später statt – die schwarz verhüllte Orgel schwieg.
Orgelsymphonien, Vokalmusik, Kammermusik
Zweifellos stellen die sechs Symphonien den bedeutendsten Teil von Viernes Orgelschaffen dar, die die glanzvolle französische Tradition dieser Gattung auf einen Gipfelpunkt führen. Deutlich spürbar sind darin die kompositorischen Vorbilder Viernes: vor allem Franck und Widor, aber auch Mendelssohn und Schumann. Neben den schönen melodischen Eingebungen der langsamen Sätze und den bisweilen überraschend bizarren Einfällen der Scherzi und Intermezzi ist es vor allem die Chromatik, die Viernes Stil kennzeichnet. Alle sechs Symphonien stehen in Moll-Tonarten, wobei insbesondere die letzteren von einem düsteren Charakter geprägt sind. Geplant hatte Vierne auch eine siebte Symphonie in C-Dur, doch wurde diese nie realisiert.
Die liturgische Vokalmusik spielt bei Vierne nur eine geringe Rolle. Zu einer vergleichsweise glücklichen Lebensphase entstand 1899 die Messe solennelle, die zu den Höhepunkten spätromantischer Orgelmessen zu zählen ist. Daneben besitzen wir für Chor nur ein Tantum ergo op. 2 und ein Ave Maria op. 3 (1886) als Jugendwerke, aus späterer Zeit den Cantique à Saint Louis de Gonzague (1926), für Solostimme das Ave verum op. 15 (1899) sowie Les Angélus op. 57 (1929), enthalten in der Sammlung kleiner Kirchenwerke; letzteres Werk ist auch in einer Chortranskription von Clytus Gottwald erhältlich.
Louis Vierne: Symphonies No. 3 and 5
Samuel Kummer
CD Carus 83.405
Begleit-CD zum Chorbuch Französische Chormusik
Kammerchor figure humaine, Denis Rouger
Carus 2.311
Doch auch außerhalb der Orgelmusik und jenseits kirchlichen Bezugs umfasst Viernes Œuvre zahlreiche Gattungen. So komponierte er unter anderem 1906 eine symphonische Legende Praxinoé op. 22 für Soli, Chor und Orchester, 1914 das symphonische Poem Psyché nach Victor Hugo op. 33 und schrieb verschiedene Orchester- und Kammermusikwerke.
Persönliche Widmungen bei nicht wenigen Werken geben Zeugnis von Viernes Lebensweg: So entstand das Klavierquintett op. 42 (1917/18) in Erinnerung an den im Krieg verstorbenen Sohn Jacques; vier Klavierstücke Solitude op. 44 wurden zum Gedenken an den im Krieg gefallenen Bruder René komponiert. Und seiner Begleiterin und Freundin Madeleine Richepin widmete er unter anderm fünf Lieder zu Texten von Charles Baudelaire op. 45 (1924). Schließlich ist auch in der Messe basse pour les défunts (Stille Messe für die Verstorbenen) op. 62 für Orgel (1934, in: Band 13 der Carus Gesamtedition) jeder Satz dem Andenken eines verstorbenen Freundes gewidmet, der entweder blind oder ein Förderer der Blinden war. Da Vierne zum Zeitpunkt der Komposition selbst fast nichts mehr sehen konte, notierte er das Werk in Braille (Blindenschrift) und diktierte es anschließend Madeleine Richepin in die Feder. Es blieb sein letztes Werk.
Die kritische Edition bei Carus
Die kritische Ausgabe von Viernes Werken im Carus-Verlag, die sämtliche Orgelwerke sowie die Messe solennelle und die kleineren Kirchenwerke umfasst, bietet einen möglichst genauen und authentischen Notentext: In der Ausgabe sind eindeutige Druckfehler der Erstausgaben korrigiert, zweifelhafte Stellen werden kommentiert und Alternativlösungen angeboten. Da alle Orgelwerke und liturgische Stücke Viernes zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, waren bei der Vorbereitung dieser Edition die von verschiedenen französischen Verlagen herausgegebenen Drucke Hauptquellen, wobei unklar ist, ob und wie sehr Vierne wegen seines schlechten Augenlichts zum Korrekturlesen beitragen konnte.
Die von David Sanger (†) und mir eingesehenen Manuskripte in Privat- und Bibliotheksbesitz gaben dazu weitere wichtige Hinweise. Während die frühen Manuskripte relativ gut lesbar sind (Vierne schrieb große Noten auf großes Notenpapier), ist z. B. das Manuskript der 6ème Symphonie recht schwer zu entziffern. Erleichtert wurde die Editionsarbeit dadurch, dass Vierne – ganz anders beispielsweise als Widor – nur äußerst selten Änderungen vorgenommen hat, nachdem ein Stück abgeschlossen war.
Auch von Vierne nicht notierte Stücke sind in der Carus-Gesamtausgabe der Orgelwerke enthalten: Ende der 1920er Jahre nämlich spielte Vierne für die Firma Odéon in Notre-Dame drei Improvisationen ein, Cortège, Marche épiscopale und Méditation. Zwar transkribierte und veröffentlichte Maurice Duruflé die drei Stücke, weicht dabei allerdings an einigen Stellen sowie auch in der Anordnung der Stücke von der tatsächlich gespielten Fassung ab. In Band 13 der Carus-Gesamtedition ist die direkt dem Orgelspiel Viernes folgende, von David Sanger erstellte Fassung enthalten.
Aufnahme von Louis Viernes Improvisation Cortège, gespielt 1928. Aufnahme der International Historical Organ Recording Collection.
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