Heinrich Kaminski (1886–1946)

Die Messe deutsch. „O wirre Welt“

Heinrich Kaminski
Die Messe deutsch
O wirre Welt
Carus 70.703/00

Heinrich Kaminski
ca. 1930

Abbildung mit freundlicher Genehmigung von:
https://heinrich-kaminski.de/

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und die zunehmende Verzweiflung an deren menschenverachtenden Regime wurde für Heinrich Kaminksi zum Auslöser einer bemerkenswerten Komposition: der Messe deutsch, einer eigenen, freien Paraphrase des lateinischen Messetexts.

Heinrich Kaminski (1886–1946) erlebte zwei Weltkriege. Schon im Ersten Weltkrieg hat er sich nicht von der ersten Kriegsbegeisterung seines Freundes, des Malers Franz Marc (1880–1916), anstecken lassen, der bereitwillig seiner frühen Einberufung an die Front gefolgt war und dies zwei Jahre später vor Verdun mit dem Leben bezahlen musste. Kaminskis musikalische Antwort auf den Kriegsausbruch 1914 war vielmehr der vertonte Hilfeschrei des 69. Psalms. Auch die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und die zunehmende Verzweiflung an deren menschenverachtenden Regime wurde zum Auslöser einer Komposition: der Messe deutsch, einer eigenen, freien Paraphrase des lateinischen Messetexts. Das Werk blieb Fragment. Der Ruf um Erbarmen des „Kyrie eleison“ und des „Christe eleison“ flossen Kaminski noch aus der Feder, auch den Lobpreis eines „Gloria in excelsis Deo“ konnte er in Töne fassen. Doch beim „Friede auf Erden“, dem „et in terra pax“, versagten ihm angesichts der politischen Situation die Worte.

Ende Juni / Anfang Juli 1934 hatten die Nationalsozialisten in einem umfangreichen Mordkomplott rund 100 Regimegegner und politisch unbequeme Personen ermordet, darunter Hitlers Amtsvorgänger als Reichs­kanzler, Kurt von Schleicher (1882–1934). In erster Linie galt der Schlag der Sturmabteilung SA und ihrem Führer Ernst Röhm (1887–1934), dem – zur Rechtfertigung der Aktion – ein angeblich geplanter Putsch vorgeworfen wurde. Die NS-Propaganda stellte die Morde als präventive Rettungstat dar, doch zeigte sich hier kritischen Zeitgenossen wie Kaminski die Unmenschlichkeit und Rechtsverachtung der Macht­habenden in besonderer Deutlichkeit. Bereits an seinem 47. Geburtstag im Jahr zuvor hatte Kaminski seine anwesenden Freunde aufgefordert, mit ihm einen „Orden“ für die Liebe und gegen Hass und Gewalt zu gründen, für den er selbst ein Regelwerk verfasste, in dem die Mitglieder sich verpflichteten „nichts und niemanden zu hassen … denn Haß wird nur durch Nichthaß überwunden“.1 Das ebenfalls darin geforderte Schweigegebot über den Orden und seine Regel wurde offenbar von einem Mitglied nicht eingehalten, weshalb Kaminski bereits zu diesem frühen Zeitpunkt eine Verfolgung durch das Regime fürchtete und vorübergehend in der Schweiz Zuflucht suchte.

Auch Kaminskis finanzielle Misere im Jahr 1934 war zumindest in Teilen der politischen Situation geschuldet. Bereits 1933 war seine Stelle als Professor für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste nicht verlängert worden, und im Juni 1934 musste er schließlich aufgrund der zunehmenden „Gleichschaltung“ auch der kulturellen Institu­tionen seinen Posten als Musikdirektor in Bielefeld räumen. Zumindest bis ins Jahr 1938 hinein blieb Kaminski jedoch persönlich unbehelligt und seine Werke wurden auch aufgeführt. Dies hatte er einem Freund aus frühen Jahren, Fritz Stein, zu verdanken, der es zu einer leitenden Position bei der Reichsmusikkammer gebracht hatte und lange Zeit Schlimmeres verhindern konnte. Immerhin war ­Kaminski zeitweise sogar erneut für eine Professur in Berlin im Gespräch. Doch die Ereignisse im Jahr 1938 konnte auch Stein nicht aufhalten, als die Reichsstelle für Sippenforschung feststellte, dass Kaminskis Vater jüdischer Abstammung war. Somit waren seine Kompositionen bis auf weitere Klärung mit einem Aufführungsverbot belegt, und der Komponist floh bis Mai 1939 erneut in die Schweiz. Zwar wurde 1940 die Einstufung von „Halbjude“ zu „Vierteljude“ revidiert und das Aufführungsverbot 1941 aufgehoben, doch wurden Kaminskis Werke aus Angst vor den Machthabern oft weiterhin gemieden.

Barbara Großmann
Barbara Großmann ist seit 2004 als Lektorin im Carus-Verlag tätig. Sie leitet selbst verschiedene Chöre und spielt Violine und Viola.

Offener Widerstand gegen das Regime war nicht ratsam, auch Heinrich Kaminski und seine Familie lebten offenbar möglichst unauffällig, wie ein Vermerk der Kreisleitung Bad Tölz vom 18. September 1940 bezeugt: „In sozialer Hinsicht bestehen keine Klagen. Kaminski ist ein Sonderling und lebt sehr zurückgezogen. Die ersten Jahre nach der Machtübernahme war er gegen den Nationalsozialismus eingestellt, in den letzten Jahren hat er sich scheinbar bekehrt und gibt in politischer Hinsicht zu Beanstandungen keinen Anlass.“2 Doch an Kaminskis Haltung zum Regime hatte sich wohl nichts geändert. So soll er im Jahr 1943 einem Flüchtling der „Weißen Rose“ Quartier geboten haben.3

Auch 1943 sah sich Kaminski noch immer nicht in der Lage, die Komposition der Messe deutsch fortzusetzen. Bereits 1938 im Schweizer Exil habe er sich in einem „wiederum vergeblichen Anlauf“ der Messe gewidmet.4 Es waren also offenbar bereits mehrere Versuche vorausgegangen, die Arbeit voranzubringen. Erst Anfang 1944 gelang es, Worte, wenn auch noch nicht Töne, für das „et in terra pax“ zu finden. Dabei war es Kaminskis sehnlicher Wunsch, die Messe zu vollenden: Er wolle „diese beiden Werke [Die Messe deutsch, Das Spiel vom König Aphelius] noch zum Abschluss bringen können; dann werde ich, soweit ein Mensch das sagen kann, dieser Welt ein getrostes Ade zuwinken, wenn die Stunde kommt.“5

Die Vollendung der Messe deutsch war Kaminski nicht mehr vergönnt. Er starb bald nach Kriegsende, im Jahr 1946. Drei seiner fünf Kinder sowie seine Gemahlin hatte er in den Kriegsjahren verloren. Seine Gesundheit hatte sich stetig verschlechtert. Doch sah er sich als Künstler immer zugleich als Künder und die Musik als Dienerin der Verkündigung: „… dies eben ist der eigentlichste und letzte Sinn des Kunstwerks: Kunde zu bringen von dem Licht …“.6 So wollte Kaminski auch in der Messe deutsch künden vom Licht: den Verlorenen, dass sie „berufen [sind] zum LICHT, aus LICHT geboren!“ (Satz I), allen Widrigkeiten zum Trotz. Ein Licht der Hoffnung in dunklen Zeiten?

Die folgenden Worte fand Kaminski 1944 für das „Et in terra pax“7:

Et in terra pax –

Ach, dass wir deinen Frieden, Erde, frevelnd immer wieder stören, die du uns, Gütige, doch nähren nur und mütterlich aus deiner Fülle segnen möchtest.

O des verblendeten Geschlechtes!

Wie sie frech dich schänden, schamlos, die Irren (o vermessene Hände!) mit Panzern, Tanks, Kanonen dich zerpflügen, furchtbare Blutsaat sich in ihren grauenvollen Kriegen säend, blind sich selbst zerfleischend – und dumpf von einem Gott dann oder Schicksal Frieden heischend, den ihnen Umkehr nur und inneres Bereitsein geben könnte.

Ach, wann nur werden endlich sie dafür gereift sein, wann zu solcher Wende sich entschließen?

Muss wirklich immer sie erst bittres Büßen dazu zwingen?

O Brüder, Brüder, hört doch, was die Engel singen:

Pax hominibus bonae voluntatis.


[1] Zit. nach Hans Hartog, Heinrich Kaminski. Leben und Werk, Tutzing 1987, S. 149.

[2]  Zit. nach Manfred Peters, Heinrich Kaminski. Auf den Spuren verloren gegangener Größe, 2005, Anm. 49: https://heinrich-kaminski.de­/?ds=24# (abgerufen am 17.6.2024).

[3]  Hartog, S. 219.

[4]  Zit. nach Hartog, S. 194.

[5]  Brief an Margrit Lutz von Anfang 1944, zit. nach Hartog, S. 226.

[6]  Ingrid Samson, Das Vokalschaffen von Heinrich Kaminski mit Aus­nahme der Opern, Diss. Frankfurt/Main 1955/56, S. 20.

[7]  Musik & Kirche, Bd. 17 (1947), S. 66.

Heinrich Kaminski
Ostern 1929

Abbildung mit freundlicher Genehmigung von:
https://heinrich-kaminski.de/


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https://www.carus-verlag.com/spotlight/carus-empfehlungen/singen-fuer-den-frieden/

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