Gefesselt von jedem Takt
Frieder Bernius über seine Gesamteinspielung von Mendelssohns Kirchenwerken
Es war Zufall: Im Sommer 1972 bin ich – mitten im Studium – aus einem Stuttgarter Vorort in den Stuttgarter Westen gezogen, einen halben Kilometer entfernt vom Wohnsitz der Familie Graulich und damit dem Sitz des Carus-Verlags. Günter Graulich war damals besonders intensiv mit Editionen im Rahmen der Stuttgarter Schütz-Ausgabe befasst, denn 1972 war ein besonderes Jahr für die Erinnerung an Heinrich Schütz: sein 300. Todestag. In dieser Zeit hatte mich die Musik von Heinrich Schütz, mit der ich neben der von Bach und seinen Zeitgenossen aufgewachsen war, nicht mehr so sehr interessiert. Ob es daran lag, dass das Wesen(tliche) von Heinrich Schütz durch die damals noch übliche (zu) romantische Sing- und Spielweise und ein zu großes, singbewegtes Sängeraufgebot eher verdeckt wurde?
In dieser Zeit war ich mehr fasziniert von der Chormusik der deutschen Romantik, von Mendelssohn und Brahms. Gerade ihr historischer Ansatz in der mehrstimmigen Vokalmusik wurde für mich die Brücke zu dem, was ich in meiner „musikalischen Pubertät“ kennen gelernt hatte. Ihr Kompositionsstil entwickelte sich zu dem von mir gegen Ende meines Studiums bevorzugten Stil. Während des Studiums hatte ich – gerade über Mendelssohn – nur Abwertendes, ja sogar Spöttisches gehört.
So kam es, dass das „tausendjährige“ Aufführungsverbot Mendelssohnscher Musik etwa dreimal so lang gehalten hat wie das desaströse Jahresdutzend. Erst Anfang der siebziger Jahre begann eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung vor allem mit dem Vokalwerk Mendelssohns. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich mir beim Schwimmen gegen einen breiten Strom Unterstützung zu holen versuchte, verunsichert von der Ablehnung der als zu „schwülstig“ oder als „reine Stilkopie“ angesehenen Musik.
Meine allererste Rundfunkaufnahme und die zweite Schallplattenaufnahme waren Mitte der siebziger Jahre Mendelssohnschen Werken gewidmet – allerdings weder mit dem Notenmaterial des Carus-Verlags, noch für seine damals gerade begonnene Schallplattenproduktion. Jedoch führten sie zu einem ersten Interesse des Verlegers Günter Graulich an meiner damaligen Arbeit.
Eine der grundlegenden Ideen des Verlags ist es, mit der gemeinsamen Notenedition und Einspielung desselben Werkes auf Tonträger die Neugier auf das jeweilige Werk umfassend anzuregen. In den späten 1980er Jahren bot Günter Graulich mir eine Einspielung aller geistlichen A-cappella-Werke von Brahms an. Dieses ehrende, schöne Angebot gab ich meinem Chor weiter – und musste zur Kenntnis nehmen, dass das Ensemble damals nach den ersten beiden Unternehmungen aufnahmemüde geworden war. So musste ich ablehnen. Die darauf entstandene Aufnahme Roger Norringtons ist seither im Katalog des Verlags und wurde erst 1995 durch unsere Neuaufnahme ergänzt.
Unsere erste Aufnahme für Carus war dann der weltlichen Chormusik des Komponisten und Musikpädagogen Karl Marx (1897–1985) gewidmet. Nun kamen wir uns aufgrund der neuen Zusammenarbeit wieder näher: Der Verlag beabsichtigte, den „ganzen geistlichen Mendelssohn“ herauszugeben und große Teile davon auf Tonträger zu veröffentlichen. 1976, vier Jahre nach Verlagsgründung, hatte Günter Graulich selbst mit der Orgelfassung der berühmten Hymne Hör mein Bitten die erste Mendelssohn-Ausgabe bei Carus ediert. Und nun der Plan einer Gesamtausgabe, begleitet von einer Gesamteinspielung: Was für ein Vorhaben! Und aus der Sicht vom Beginn der achtziger Jahre: Was für ein Wagnis!
„Felix Mendelssohn Bartholdy hat mit vielen Kompositionen geistlicher Vokalmusik seine bedeutendsten Schöpfungen hinterlassen“ – zu dieser Einschätzung kam schon Hermann Kretzschmar 1895 in seinem Führer durch den Konzertsaal. Warum auch sollte der frühreife Komponist außer den über lange Zeit einzig genannten Werken, wie z. B. dem Oktett oder der Ouvertüre zum Sommernachtstraum, nicht zugleich ebenso bedeutende Vokalmusik geschrieben haben? Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem geistlichen Vokalwerk Mendelssohns wurde allerdings immer wieder durch die zu einseitige Würdigung seiner Verdienste um die Wiederaufführung der Bach’schen Matthäus-Passion oder durch Vorurteile, die seine jüdische Herkunft betrafen, überlagert.
Ich war von Anfang an von der Idee einer Gesamteinspielung ebenso begeistert, wie ich von fast jedem Takt dieses Komponisten gefesselt bin (und das „fast“ bezieht sich darauf, dass man Mendelssohn dasselbe wie jedem großen Komponisten zugestehen sollte: dass es natürlich neben den herausragenden Werken auch schwächere gibt). 1983, nur ein Jahr nach Erscheinen der ersten Compact Disc überhaupt auf dem deutschen Markt, konnten wir auch die erste Carus-CD (Mendelssohns Hör mein Bitten und weitere Kirchenwerke) veröffentlichen – und damit war der Startschuss für das ebenso ambitionierte wie umfangreiche Projekt gegeben.
Frieder Bernius zielt bei seiner Arbeit als weltweit gefragter Dirigent auf einen am Originalklangideal orientierten und zugleich unverwechselbar persönlichen Ton, egal ob bei den Vokalwerken von Monteverdi, Bach, Händel, Beethoven, Schütz oder Ligeti, den Schauspielmusiken von Mendelssohn oder den Sinfonien von Haydn und Schubert. Bernius leitete nicht nur die Gesamteinspielung der geistlichen Vokalmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy und viele weitere Einspielungen verschiedenster Komponist*innen, sondern ist auch Herausgeber von Noteneditionen des Carus-Verlags, zuletzt von Mozarts Missa in c KV 427.
„Phänomenal: Mendelssohns Sakralmusik mit dem Stuttgarter Kammerchor … Kein Superlativ ist verschwendet, um
diesen Chor zu rühmen. Vom Barock bis zu den Klangkapillaren Ligetis hat er sich eine Sensibilität, eine Sprache der Farben erarbeitet, in der nun Mendelssohns Musik aufleuchtet. Nicht nur das Bild des Komponisten wird durch diese Gesamtaufnahme nachhaltig verändert werden.“
DIE ZEIT
Felix Mendelssohn Bartholdy
Geistliches Chorwerk
Carus 83.020
Felix Mendelssohn Bartholdy
Oratorien
Carus 83.021
Gesamteinspielung und Gesamtausgabe der vokalen Werke gingen Hand in Hand: 38 Werke aus Mendelssohns Feder wurden überhaupt zum ersten Mal herausgegeben, vieles erstmals eingespielt. Besonders gegenwärtig ist mir noch die Aufnahme des Lauda Sion im Juni 1996 in der Evangelischen Kirche St. Johannes in Schwaigern. In der damals verbreiteten Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert fehlte die Fuge „Sub diversis specibus“ (Nr. 6). Durch Forschungen war bekannt geworden, dass Mendelssohn die Fuge zwar zunächst verworfen, dann später doch wieder integriert hatte. In der Neuedition bei Carus wurde sie erstmals im Gesamtwerk wieder veröffentlicht, und bei meiner Einspielung – wir waren bereits in der Aufnahme – konnte sie noch sehr kurzfristig realisiert werden. Und ich erinnere mich, wie mir Günter Graulich eher beiläufig von einer noch unveröffentlichten Orchesterfassung der 1844 geschriebenen Hymne Hör mein Bitten erzählte, auf die er gerade aufmerksam geworden sei: Sofort war ich Feuer und Flamme für diese Version – seit einiger Zeit war mein Interesse an Orchesterpartituren und -farben sehr gewachsen, und ich konnte, als ich das Werk aus dem Autograph selbst übertrug, interessante Vergleiche zwischen der Orgelfassung und den Instrumentierungsabsichten des Komponisten herstellen.
Seither sind auf insgesamt zwölf CDs sämtliche Kirchenwerke Mendelssohns erschienen, 2013 wurde die Edition mit der Veröffentlichung von zwei Boxen abgeschlossen: eine lange Zeitspanne, innerhalb derer sich interpretatorische Ansätze naturgemäß verändern. Die Gesamteinspielung von Mendelssohns geistlichem Vokalwerk, schließlich ergänzt um die drei Schauspielmusiken, hat meine Interpretation innerhalb von 25 Jahren in der künstlerischen Auseinandersetzung mit seiner herausragenden vokalen Satztechnik sowie seiner feinen Instrumentationskunst reifen lassen. Auch die möglichst genaue Beachtung der Metronomangaben des Komponisten hat mir geholfen, seinen ästhetischen Intentionen näher zu kommen. Und es hat sich erwiesen, dass die interpretatorische Erfahrung mit dem vokalen Gesamtwerk die oratorischen Hauptwerke Lobgesang, Paulus und Elias neu beleuchten kann.
Inzwischen liegt uns ein Überblick über Mendelssohns vollständiges Œuvre auf dem Gebiet der geistlichen Vokalmusik in wissenschaftlichen Notenausgaben und auf Tonträgern vor. Über 200 Jahre nach Mendelssohns Geburt ist somit eine wirklich fundierte (Neu-)Bewertung dieses Teils seines kompositorischen Schaffens möglich, notwendig war sie längst.
Abschließend noch ein kleiner Blick in die Zukunft: Es war Mendelssohn ein besonderes Anliegen, nicht nur groß besetzte und abendfüllende Werke zu schreiben. Gerade in den weltlichen „Liedern im Freien“ und mehr noch in seinen durchgehend vierstimmigen a cappella Chören für Männerstimmen zeigt sich seine Vielseitigkeit, mit der er zum einen dem Geschmack der bürgerlichen Mittelschicht entsprach, zum andern aber bei aller Einfachkeit des Satzes auch Werke mit künstlerischem Wert und Originalität schuf. Es war die andere Seite eines ebenso vielseitigen wie wandlungsfähigen Könners. Darunter finden sich Sätze, die in viele Volksliedsammlungen aufgenommen worden sind und seine Popularität gesteigert haben. Aber ebenso durchkomponierte Werke wie „Lieb und Hoffnung“, eine seiner ersten Kompositionen aus dem Jahr 1820, die bereits etwas den späteren Personalstil seiner melodiös weitspannenden Phrasen vorwegnehmen. Oder das geheimnisvoll erzählte „Zigeunerlied“ auf einen Text von Goethe, nicht viel später entstanden, die „Wasserfahrt“ im Barcarolenrhythmus seiner „Lieder ohne Worte“ geschrieben. Die Kompositionen dieser vierstimmigen Sätze ziehen sich durch sein ganzes Leben, von dem erwähnten Werk des Elfjährigen bis zu einem geselligen Lied, „Comitat“ für vierstimmigen Männerchor, geschrieben zwei Monate vor seinem Tod. Das SWR-Vokalensemble wird alle 34 Kompositionen, von denen die Hälfte nicht zu Mendelssohns Lebzeiten gedruckt wurde, für den Carus-Verlag aufnehmen. Es ist ein abschließender Beitrag zur Gesamtaufnahme seiner Vokalwerke.
Felix Mendelssohn Bartholdy
Schauspielmusiken
Carus 83.022
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