Ravel und der Prix de Rome
– eine Misserfolgsgeschichte
Maurice Ravel nahm fünfmal am prestigeträchtigen Wettbewerb um den Prix de Rome teil, doch trotz seiner unermüdlichen Bemühungen gelang es ihm nie, den ersten Preis zu gewinnen. Besonders das Jahr 1905 führte zu einem Skandal: Ravel wurde schon in der Vorrunde disqualifiziert, was öffentliche Proteste auslöste. Seine Werke aus dieser Zeit, darunter Fugen, Chorkompositionen und Kantaten, zeigen jedoch sein außergewöhnliches Talent und seine Fähigkeit, strenge akademische Vorgaben mit kreativer Orchestrierung und Harmonik zu verbinden.
Zwischen 1900 und 1905 nahm Maurice Ravel fünfmal am Wettbewerb um den Rompreis, den Prix de Rome, teil, aber nie gelang es ihm, den ersten Preis zu gewinnen. Seine Beharrlichkeit jedoch lässt auf die Bedeutung schließen, die er diesem Wettbewerb beimaß. Die Teilnahme war nämlich keine einfache Sache: vielmehr musste man sich auf schwierige Prüfungen vorbereiten und ein strenges Regelwerk akzeptieren. Der Wettbewerb bestand aus zwei Runden. Die erste Runde, der Concours d‘essai, bestand aus einer sechstägigen Klausur in einer sog. „Loge“. Während dieser Zeit durften die Teilnehmer den Ort des Wettbewerbs (zu Ravels Zeiten der Palais de Compiègne) nicht verlassen und mit niemandem kommunizieren. Die Aufgabe bestand darin, eine Fuge für vier gemischte Stimmen sowie eine Komposition für Chor und Orchester zu schreiben. Wer den Concours d’essai erfolgreich bestanden hatte, durfte sich anschließend dem dreißigtägigen Hauptwettbewerb, dem Concours définitif, stellen. Das hierfür zu komponierende Werk blieb kennzeichnend für den Prix de Rome: Es handelte sich um eine lyrische Szene für zwei oder drei Solostimmen und Orchester, die üblicherweise „Kantate“ genannt wurde. Ab 1845 war der zu vertonende Text seinerseits jedes Jahr Gegenstand eines Poetik-Wettbewerbs zu mythologischen, historischen, legenden- oder romanhaften oder sogar zu biblischen Themen.
Die „Ravel-Affäre“
Nachdem Ravel 1904 nicht beim Wettbewerb angetreten war, versuchte er ein letztes Mal, den Rompreis zu erlangen. Doch er schied bereits in der Vorrunde aus. Das führte zu heftigen Protesten, die ein Echo in der zeitgenössischen Presse fanden. Ein Grund, aus dem diese Entscheidung angefochten wurde, war, dass die Jury Ravel vier Jahre zuvor einen „zweiten zweiten Preis“ zuerkannt hatte und es darum schwer vermittelbar war, dass ein Preisträger des Jahres 1901 im Jahr 1905 nicht mehr zum Wettbewerb zugelassen werden sollte. In Anbetracht der Tatsache, dass Théodore Dubois, der Direktor des Conservatoire, eine negative Haltung gegenüber Ravel vertrat, ist es nicht ausgeschlossen, dass er die Entscheidung der Jury beeinflussen konnte. Dubois, der im musikalischen Frankreich der Zeit eine traditionalistische Haltung vertrat, widersetzte sich offen modernen musikalischen Entwicklungen, zu deren Vertretern er Ravel zählte. Ein weiterer heikler Aspekt war, dass alle beim Concours d’essai ausgewählten Kandidaten Schüler von Charles Lenepveu waren: Louis Dumas, Marcel Rousseau, Philippe Gaubert, Louis-Ferdinand Motte (genannt Motte Lacroix), Victor Gallois und Abel Estyle. Lenepveu als Mitglied der Académie des Beaux-Arts war aufgrund seiner Stellung auch rechtmäßiges Mitglied der Jury.
Maurice Ravel, 1906
Théodore Dubois
Das Ergebnis des Concours d’essai kann also als ein Zeichen mangelnder Neutralität gewertet werden. Kurze Zeit nach dem „Skandal“ des Prix de Rome trat Théodore Dubois von seinem Posten als Direktor des Conservatoire zurück. Es wurde allerdings nachgewiesen, dass dieser Rücktritt, der häufig als Schuldeingeständnis gewertet worden war, nicht im Zusammenhang mit der „Affaire Ravel“ stand: Mehrere Dokumente belegen, dass Dubois bereits mehrere Monate zuvor seine Pensionierung beantragt hatte, um sich seinen musikalischen Aktivitäten widmen zu können und um sich von einem Amt zu erholen, dessen Ausübung ihn erschöpft hatte.
Ravels Kompositionen für den Wettbewerb
Die Stücke, die Ravel im Rahmen des Prix de Rome-Wettbewerbs komponierte, sind nicht unbedeutend, weder quantitativ noch qualitativ. Sie umfassen die für den Concours d’essai komponierten Stücke, d. h. fünf Fugen und ebenso viele Chöre, außerdem die Kantaten von 1901, 1902 und 1903, da Ravel in diesen drei Jahren die Vorrunde bestanden hatte.
Die Fugen
Die Fugen entsprechen einem Aufgabentypus, der während der gesamten Geschichte des Prix de Rome gefordert war und am Pariser Conservatoire als „Schulfuge“ bezeichnet wurde. Die Regeln für dieses Genre waren in Abhandlungen über Kontrapunkt und Fuge aus verschiedenen Epochen festgehalten, z.B. von François-Joseph Fétis (1824), Luigi Cherubini (1835), Théodore Dubois (1901), André Gédalge (1901) und Marcel Dupré (1936). Die Studenten mussten einen strengen formalen Aufbau beachten und ihre Beherrschung anspruchsvoller kontrapunktischer Techniken unter Beweis stellen (Augmentation, Diminution, Umkehrung, Krebs, Kanon etc.). Die Manuskripte der für den Rompreis entstandenen Fugen weisen Spuren dieser akademischen Praxis auf, denn die Kandidaten notierten selbst Anhaltspunkte, anhand derer die obligatorische Vorgehensweise sowie die kontrapunktischen Veränderungen nachvollzogen werden konnten. Auch wenn die Rom-Preisträger im Laufe ihrer Komponistenkarriere nicht immer Anlässe hatten, Fugen zu schreiben, galt die Beherrschung des Kontrapunkts im Allgemeinen und der Fuge im Besonderen als unerlässlich für einen Komponisten. So hat z.B. Georges Bizet, Rompreis-Gewinner von 1857, während seines Aufenthalts in Rom im Jahr 1858 sein kontrapunktisches Können bei der Komposition eines Te Deum (Carus 27.187) angewandt. Dessen vierten Satz („Fiat misericordia tua“) konzipierte er als eine große Fuge für Chor und Orchester. Ravel scheint sich jedoch eher wenig für das Studium der Fuge interessiert zu haben. Zu seiner Zeit waren die Möglichkeiten, diese Kompositionstechnik anzuwenden, bereits sehr begrenzt, insbesondere für einen Komponisten, der einen avantgardistischen Ansatz vertrat. Erwähnenswert ist allerdings seine dreistimmige Fuge in Le Tombeau de Couperin (1914–1917). Deren Entstehung ist im Kontext einer Hommage an einen Komponisten des 18. Jahrhunderts zu sehen.
Die Chorkompositionen mit Orchester
Das ebenfalls im Concours d’essai geforderte Chorwerk mit Orchester und Solist wurde auf ein Gedicht eines von den Mitgliedern der Académie des Beaux-Arts geschätzten Autors geschrieben. Im Fall von Ravels im Jahr 1905 eingereichter Komposition L’Aurore (Carus 10.407) war der Dichter Édouard Guinand, ein Autor, der u.a. bereits 1884 den Text der Kantate L’Enfant prodigue gestellt hatte, mit der Claude Debussy den ersten Preis gewinnen konnte. L’Aurore beschreibt eine idyllische Sicht auf die Natur bei Sonnenaufgang und feiert die Sonne gottgleich für ihren wohltuenden Einfluss auf die Natur und den Menschen. Anhand der Chorkomposition konnten die Fähigkeiten der Kandidaten in Bezug auf Orchestrierung, aber auch im Umgang mit einem poetischen Text beurteilt werden, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt der Entsprechung von Musik und Text als auch unter dem eher technischen Aspekt der Prosodie. Auch wenn die genaue Besetzung nicht vorgegeben war, so beinhalteten die Chorkompositionen des Wettbewerbs zu Ravels Zeit neben Chor und Orchester auch mindestens eine Solostimme. In L’Aurore ist der Solist ein Tenor, der in der Mitte des Stücks mit einem Gruß an die aufgehende Sonne auftritt.
L’Aurore bildet den Auftakt zur Edition aller fünf Wettbewerbs-Chorkompositionen im Carus-Verlag (10.403–10.407). Wahrscheinlich ist dieses Werk darunter das Ravel-typischste. Man findet Eigenheiten in der Orchestrierung und Harmonik, die Ravel auch schon in seinen Anfang 1900 komponierten Werken eingesetzt hatte: In Bezug auf die Harmonik bemerkt man z. B. die häufige Verwendung des Dreiklangs mit Sixte ajoutée, von Quintparallelen und Orgelpunkten, den Einsatz „modaler“ Einfärbungen (dorisch, phrygisch) und punktueller Dissonanzen, ohne Berücksichtigung der gängigen Regeln der Vorbereitung und Auflösung. Bei der Orchestrierung verwendet Ravel gerne Tremoli (die mit Pizzicati kombiniert werden können), solistische Bläser, Harfenglissandi, Begleitung durch Triolen- oder Sechzehntelfigurationen sowie rezitativartige instrumentale Abschnitte.
Auch die anderen Chorkompositionen, die zwischen 1900 und 1904 entstanden, sind in musikalischer Hinsicht von weitaus größerem Interesse denn bloße Übungs- oder Studienstücke. In Les Bayadères (1900, Carus 10.403 i. V.) gab Ravel die orientalisierende Atmosphäre der Gedichtvorlage aus der Feder von Henri Cazalis die Möglichkeit, einen „Exotismus“ zu erproben, den er in Shéhérazade (1903) verfeinerte und der auch starke Ähnlichkeiten mit dem hispanisierenden Stil aufweist, der ab der Rhapsodie espagnole von 1907 ein immer wiederkehrendes Gestaltungselement in seinem Schaffen wurde (z. B. die Verwendung der Schellentrommel und des Rhythmus ). In Tout est lumière (1901, Carus 10.404 i. V.) ließ er sich von der romantischen Poesie Victor Hugos zu einem Stück in einem konventionelleren Stil inspirieren, aber mit einem ebenso meisterhaften Einsatz der Klangfarben des Orchesters. La Nuit (1902, Carus 10.405 i. V.) gab Ravel die Gelegenheit, in einem kurzen Stück eine große Vielfalt verschiedener Schreibweisen zu demonstrieren: So findet man A-cappella-Chorphrasen, aber auch einen Sopranabschnitt, der nur von einem reduzierten Orchester begleitet wird (Akkordrepetitionen in den Bläsern sowie Arpeggien der Harfe). Dieses Prinzip einer zurückhaltend vom Orchester begleiteten Solostimme wird in Matinée de Provence (1903, Carus 10.406 i. V.) wieder aufgegriffen. Wie in L’Aurore wird auch hier eine idyllische Morgenlandschaft gezeichnet. Doch auch wenn die Sonne in Matinée de Provence ebenfalls sehr präsent ist, geht es dem Dichter, dessen Identität erst in der 2025 erscheinenden Carus-Ausgabe enthüllt werden soll, vor allem darum, die Schönheit seiner Region, der Provence, zu betonen.
Maurice Ravel, ca. 1910
Die Kantaten
Bei den Kantaten handelte es sich um anspruchsvollere Stücke als die Chorkompositionen des Probewettbewerbs. Durch diese Komposition bildeten die Kandidaten ihre grundlegenden Fähigkeiten im Bereich der Oper weiter, die das Hauptziel der Kompositionsklassen des Konservatoriums war. Das früher noch vernachlässigte Repertoire ist heute besser bekannt und wird in Konzerten und Aufnahmen dargeboten, besonders die Kantaten von heute berühmt gewordenen Komponisten wie Berlioz, Debussy oder Ravel.
Das Genre der Kantate unterlag zahlreichen Vorgaben, angefangen bei einem vorgeschriebenen Text, dessen Thema sich von den literarischen Vorlieben der Kandidaten deutlich entfernen konnte. Zu Ravels Zeit war die Kantate mit drei Personen besetzt, d. h. es waren drei Solisten gefordert. Zu den formalen Konventionen gehörten die Eröffnung der Kantate mit einer Orchestereinleitung sowie das sukzessive Auftreten der Figuren, was häufig ein Liebesduett beim Erscheinen der zweiten Person zur Folge hatte. Die Ankunft der dritten Person brachte eine Wendung in die vorausgegangene Situation und musste zu einem dialogisch kommunizierenden Trio mit einem kontrapunktischen Abschnitt führen.
Die drei von Ravel komponierten Kantaten bestätigen die Bedeutung dieser Konventionen: In Myrrha (1901) singen im Liebesduett die Figuren des Königs Sardanapalos und die Sklavin Myrrha, in die er sich verliebt hat. Die dritte Figur, der Hohepriester Belesis, hindert Sardanapalos daran, mit Myrrha zu fliehen und so dem Scheiterhaufen zu entgehen. Alcyone (1902) ist anders strukturiert, dort gibt es kein Liebesduett. Die zweite Figur, Sophrona, die Vertraute der Königin Alcyone, ist vielmehr von Anfang an präsent. Céyx, der verstorbene Gatte von Alkyone, erscheint ihr in der vierten Szene als ein Schatten. In Alyssa (1903), das im Irland der Sagenzeit angesiedelt ist, findet sich wieder die konventionelle Struktur: Das Liebesduett wird von dem Prinzen Braïzyl und der Fee Alyssa gesungen. Die dritte Figur ist ein Barde, der Braïzyl aus Alyssas Armen reißen und ihn dazu bringen will, sein Volk zu verteidigen, das von den Kriegern aus Morven angegriffen wird.
Die nähere Betrachtung der Kantaten zeigt, dass Ravel sehr hohe Anforderungen an die Vokalsoli stellte: Seine gesungenen Rollen verlangen Kraft und sind häufig fordernd in der Höhe. Diese stimmlichen Anforderungen galten auch für die Oper, das noble Genre, für das die Kantate als Experimentierfeld diente – zwar im Kleinen, aber dennoch bedeutsam genug, um ein solides kompositorisches Können zu erfordern (Ravels drei Kantaten haben jeweils eine Länge von etwa 25 Minuten). Wie in den Chorkompositionen ist auch in den Kantaten das Orchester sehr präsent. Ravel setzt viele individuelle Kombinationen von Klangfarben ein, aber er demonstriert auch seine Kenntnis des symphonischen Stils französischer Komponisten wie Franck oder Saint-Saëns. Der traditionelle Ort, sich im Umgang mit dem Orchester zu beweisen, wäre eigentlich die Einleitung, doch in Alcyone fügt Ravel nach der ersten Szene eine etwa vierminütige „Symphonische Beschreibung“ ein, in der er in erster Linie den Sturm darstellt, in dem Céyx umkam. In den Kantaten verwendet Ravel das Orchester als Klangfarbe, vertraut ihm aber auch die Einführung und Entwicklung von Leitmotiven in einer Art und Weise an, die die Franzosen von Wagner abgeschaut hatten und die beispielsweise die Technik von Massenet kennzeichnete.
Das umfangreiche Korpus der von Ravel für den Prix de Rome komponierten Stücke erweist sich also als überaus reichhaltig. Man kann darin die unbequeme Position eines Komponisten spüren, dessen bereits gefestigter und von der Öffentlichkeit geschätzter persönlicher Stil zwar immer wieder durchscheint, der sich aber andererseits bemüht, die Jury zufrieden zu stellen, indem er meist eine konsensfähigere Schreibweise wählt, die auf der Aneignung der Stile von Komponisten wie Massenet, Saint-Saëns, Chabrier, Bizet und anderen beruht. Die oben vorgestellten fünf Kompositionen für Chor, Solist und Orchester, die nach und nach bei Carus veröffentlicht werden, bieten einen ausgezeichneten Eindruck von Ravels Erfindungsreichtum, der akademische Zwänge überwinden konnte und es schaffte, eine besondere Kreativität in Bezug auf Orchestrierung und Harmonik unter Beweis zu stellen und das Wesen eines poetischen Textes in einer höchst differenzierten klanglichen Darstellung zu erfassen.
Marc Rigaudière ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Reims und am dortigen Studien- und Forschungszentrum für Kulturgeschichte (CERHiC). Zuvor lehrte er u.a. am Konservatorium in Metz sowie an der Pariser Universität Sorbonne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Musiktheorie und musikalische Analyse sowie die wissenschaftliche Edition musikalischer Werke, bereits seit 2002 in Zusammenarbeit mit dem Carus-Verlag.
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