Mozart vocal

Unvollendet

Mozarts c-Moll-Messe

Die Missa in c KV 427 von Wolfgang Amadeus Mozart ist ein Faszinosum. Allein schon von „der“ Messe zu sprechen, ist ungenau, liegt doch im Grunde nicht mehr vor als ein musikalischer Torso, voller Rätsel und Probleme – und voll großartiger Musik. Wir blicken auf die spannende Entstehungs- und Überlieferunggeschichte.

Was für eine Geschichte! Mozart legt das Gelübde ab, nach der glücklich überstandenen Geburt seines ersten Kindes eine Messe zu komponieren; die Aufführung ist geplant anlässlich der ersten Reise mit seiner Frau nach Salzburg, um diese seiner Familie vorzustellen – auch musikalisch, denn eine der anspruchsvollen Sopran-Partien soll Constanze singen. Doch dann stirbt das bei einer Amme in Wien zurückgelassene Baby und Mozart bricht die Komposition ab – genau im Et incarnatus est, einem der schönsten, innigsten Sätze Mozarts, in dem es auch noch ausgerechnet um die Menschwerdung, also Geburt geht! Zu passend, um wahr zu sein? Wahrscheinlich.

Doch etwas ist dran an dieser rührenden, ganz persönlichen Geschichte. Zwar ist ein Brief Mozarts an seinen Vater vom Januar 1783 – das einzige Dokument für das Gelöbnis aus der Entstehungszeit der Messe selbst – alles andere als eindeutig, und folglich wird jener Zusammenhang zwischen der c-Moll-Messe und der Geburt von Raimund Leopold regelmäßig in Zweifel gezogen. Doch diverse spätere Äußerungen Constanze Mozarts (die ihren Mann um mehr als 50 Jahre überlebte) wiederholen über einen langen Zeitraum diese Geschichte regelmäßig. Und stets ist davon die Rede, dass Mozart seiner Frau gelobt habe, eine Messe zu komponieren, wenn die Entbindung glücklich verliefe.

CD Mozart c-Moll-Messe

Missa in c
Kammerchor Stuttgart, Hofkapelle Stuttgart, Frieder Bernius
CD
Carus 83.284

Mozart: c-Moll-Messe
ergänzt und herausgegeben von Frieder Bernius und Uwe Wolf

Seit dem 19. Jahrhundert wurden Versuche unternommen, Mozarts Fragment aufführbar zu machen. Der renommierte Musikwissenschaftler Uwe Wolf und der Experte für die historisch-informierte Aufführungspraxis Frieder Bernius haben gemeinsam eine neue Edition der Mozart-Messe vorgelegt, die versucht, mit größtem Respekt vor dem vorhandenen Material die Aufführung zu ermöglichen, ohne Mozarts musikalische Handschrift mit eigenem Zutun zu überdecken.

Fakt ist auch, dass Mozart die Komposition abgebrochen hat: Vom Credo sind nur die ersten beiden Sätze komponiert, dabei nur als Entwurf notiert. Nach dem Et incarnatus est endet der Entwurf des Credo; die weiteren Teile des Credo wie auch das Agnus Dei und das Dona nobis pacem fehlen ganz; vermutlich dazugehörige Skizzen zeigen allerdings, dass Mozart geplant hatte, die verbleibenden Teile noch zu komponieren. Warum aber Mozart die Arbeit abbrach, ist gänzlich unbekannt. Sollte es wirklich mit Raimund Leopolds Tod zusammenhängen? Sollte Mozart wirklich bei der Komposition des Et incarnatus est – zugegeben einem der schönsten, wärmsten Sätze, die wir von Mozart haben – an die Geburt seines Sohnes gedacht haben? Dann wäre ein Ende der Arbeiten just an dieser Stelle nach der Nachricht vom Tod seines Sohnes folgerichtig. Doch das bleibt Spekulation, zudem auf sehr dünnem Eis.

Kurz vor der Rückreise des Paares nach Wien wurde die c-Moll-Messe dennoch – vermutlich am 26. Oktober 1783 – in Salzburg aufgeführt, die einzige Aufführung zu Mozarts Lebzeiten. Es erklangen Kyrie, Gloria, Sanctus mit Hosanna und Benedictus, also alle vollständig komponierten Teile. Ob die fehlenden Ordinariumsteile durch Kompositionen aus anderen Messen ersetzt wurden, ist nicht bekannt; Kombinationen von Messsätzen unterschiedlicher Herkunft waren jedenfalls nichts Ungewöhnliches. Doch schon die zur Aufführung gelangten Sätze der Messe stellen alles in den Schatten, was Mozart bis dahin an Kirchenmusik komponiert hatte. In den Dimensionen gemahnt die Messe an die h-Moll-Messe Johann Sebastian Bachs, die Mozart mit hoher Wahrscheinlichkeit gekannt und studiert hatte.

Bei der Aufführung der c-Moll-Messe in Salzburg wirkte Constanze Mozart als Sopran-Solistin mit; das berichten sowohl Mozarts Schwester Anna Maria („Nannerl“) als auch rückblickend Con­stanze selbst. Mozart hatte Con­stanze für diesen ersten Auftritt in seiner Heimatstadt gut gewappnet: Das „per la mia cara Costanza“ geschriebene Solfeggio KV 393, Nr. 2 entspricht dem Anfang des Christe eleison der c-Moll-Messe, wurde also möglicherweise zur Vorbereitung auf dieses erste Solo in der Messe geschrieben.

Bald nach jener Salzburger Aufführung vom Oktober 1783 allerdings hatte Mozart die Messe als solche wohl aufgegeben, vielleicht auch, weil die ausladende Vertonung von Messsätzen den Bestrebungen des damaligen Reformkatholizismus geradezu entgegenlief, sodass Mozart kaum auf weitere Verwendungsmöglichkeiten für die c-Moll-Messe hoffen konnte. Die Messe wird 1785 für ihn zum Steinbruch: Es entsteht die Kantate Davide penitente (Der büßende David) KV 469 für das jährliche Benefizkonzert der Wiener Tonkünstlersozietät. Kyrie und Gloria gehen vollständig in diese Psalmkantate auf, nicht aber die beiden schon entworfenen Sätze des Credo und auch nicht das Sanctus mit Hosanna und Benedictus, die in Salzburg erklungen waren. Vermutlich war ein Teil des Autographs dieser Sätze schon damals, zwei Jahre nach der Uraufführung, verschollen. Und es fehlt dabei das Wesentliche, nämlich die Hauptpartitur. Lediglich die Bläserpartitur zum Sanctus und Hosanna ist erhalten: Bei Sätzen großer Besetzung reichte das von Mozart verwendete 12-zeilige Notenpapier nicht aus, ­weswegen er zusätzliche Stimmen dann in einer zweiten Partitur notierte, die unter  Umständen – wie beim doppelchörigen Qui tollis und auch eben bei Sanctus und Hosanna – sämtliche Bläser enthalten konnte. Damit lässt die Bläserpartitur der beiden Sätze Rückschlüsse auf die Chorbesetzung zu, Singstimmen und Streicher jedoch sind mit der autographen Hauptpartitur verloren gegangen – und mit ihr auch das Autograph des Benedictus, das wegen seiner kleinen Besetzung keine zusätzliche Bläserpartitur erforderte.

carus music, die Chor-App

Ob im doppelchörigen „Qui tollis“ oder der Fuge „Cum Sancto Spiritu“: die Chorsänger*innen sind auf jeden Fall gefordert – und trotzdem darf die Stimmung des Werkes nicht verloren gehen. Wenn die Mischung von Treffsicherheit und Gestaltung stimmt, wird sich keiner, weder Aufführender noch Zuhörer, der Faszination dieses Werks entziehen können.

Der Coach basiert auf aufgenommenen Einzelstimmen des Kammerchors Stuttgart und macht das Üben zu einem noch größeren Vergnügen!

Während sich somit aus dem Partitur-Autograph die Komposition nur unvollständig erschließen lässt, wurden immerhin indirekt über die Stimmen der Salzburger Aufführung weitere ergänzende Teile überliefert. Die Stimmen blieben nach der Aufführung von 1783 in Salzburg bei Mozarts Vater ­Leopold. Nach dessen Tod übersandte Mozarts Schwester Nannerl diese zusammen mit anderen Stimmen zu kirchenmusikalischen Werken aus dem Nachlass des Vaters an das Augustiner Chorherrenstift Heilig Kreuz in Leopolds Heimatstadt Augsburg. Der dortige Chorregent Pater Matthäus Fischer (1763–1840) fertigte vermutlich um 1800 zunächst von den beiden Chorfugen Cum Sancto Spiritu und Hosanna Partituren an, offenbar in der Absicht, diese Stücke aufzuführen, denn er verkleinerte deren Besetzung, ließ Viola, Fagotte und Pauken weg und reduzierte auch die doppelchörige Hosanna-Fuge auf vier Singstimmen. Die Komposition wurde damit an die Besetzung anderer kirchenmusikalischer Werke Mozarts und seiner Zeitgenossen angepasst. Später ergänzte Fischer diese Partitur mit allen weiteren in den Stimmen vorliegenden Mess­teilen; diesmal fast ohne weitere Reduktionen. Auch wenn die Stimmen selbst heute weitgehend verschollen sind, kennen wir so dank Fischers Abschrift zumindest teilweise die Streicher- und Singstimmen von Sanctus und Hosanna und auch das Benedictus, von dem nichts aus Mozarts Hand erhalten ist.

Für uns heute ergibt sich daraus eine komplizierte Ausgangssitua­tion, da die c-Moll-Messe gleich in mehrerer Hinsicht Fragment ist: Es gibt Sätze, die Mozart komponiert hat, sie sind aber nur fragmentarisch erhalten (Sanctus, Hosanna); es gibt Sätze, die Mozart niedergeschrieben, aber noch nicht fertig ausgeführt hat (Credo, Et incarnatus est) und es gibt schließlich Messteile, die er – von wenigen Skizzen abgesehen –
gar nicht komponiert hat (die übrigen Teile des Credo, sowie Agnus Dei und Dona nobis pacem). Letzteres ist das geringste Problem, denn bei heutigen Aufführungen im Konzert fällt die liturgische Unvollständigkeit nicht ins Gewicht. Will man aber auch diese Teile aufführen, muss hinzukomponiert werden, wie in der erfolgreichen Fassung von Robert Levin. Doch auch wenn man sich auf die überlieferten Teile beschränkt, muss man an den fragmentarischen Teilen Hand anlegen. Die Geschichte dieses unvollendeten Werks ist daher bis heute nicht abgeschlossen.

Um das Video zu sehen, müssen Sie Marketing Cookies akzeptieren.

Über die Schulter geschaut: Frieder Bernius und Uwe Wolf geben Einblick in ihre Fassung von Mozarts c-Moll-Messe.

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert