Farbig und emotional
Händels englische Oratorien
Nicht weniger als zwei Drittel seines Lebens verbrachte Georg Friedrich Händel in England. Mit 25 Jahren reiste er – nach vier Studienjahren in Italien – zum ersten Mal nach London. Nur wenig später siedelte er endgültig dorthin über und blieb in dieser Stadt – abgesehen von Reisen – bis zu seinem Lebensende. Es kann demnach nicht überraschen, dass seine bedeutendsten und größten Kompositionen in England und in englischer Sprache entstanden sind, u. a. drei sogenannte Oden und die meisten seiner 25 Oratorien. Der Blick soll hier insbesondere auf die bei Carus in Urtext-Ausgaben (in Originalsprache mit deutscher Übersetzung) erschienenen Werke gerichtet werden: die Ode Alexander‘s Feast sowie die Oratorien Israel in Egypt, Saul und Messiah.
Das sogenannte englische Oratorium kann gewissermaßen als Erfindung Händels bezeichnet werden. In ihm verschmelzen die Erfahrungen aus seinem Italien-Aufenthalt (italienische Oper) mit Elementen des deutschen Passions-Oratoriums (z. B. Brockes-Passion 1719) und dem englischen Anthem. Händel bediente sich dabei überwiegend alttestamentarischer biblischer Stoffe, bei denen Szenen aus der Geschichte der Israeliten im Mittelpunkt stehen, die er aber oft durch dramatische und/oder zusätzliche persönliche Beziehungstableaus anreicherte und erweiterte. So sind die Texte von Messiah und Israel in Egypt fast wörtlich der Bibel entnommen und auch Saul greift auf Texte der Bibel zurück; die Texte wurden jeweils von Charles Jennens zusammengestellt, der wohl als der bedeutendste der Händel’schen Librettisten bezeichnet werden kann. (Das Libretto von Alexander’s Feast hingegen geht auf eine Ode von John Dryden zurück und wurde von Newburgh Hamilton verfasst.) Es ging Händel dabei weniger um eine dramatische Anlage der Oratorien (schließlich sind es keine Opern, und eine szenische Aufführung war – trotz kleiner szenischer Hinweise in mancher Partitur – nicht intendiert!) als um Darstellung des feierlich Erhabenen und den Ausdruck von Affekten und Gemütsbewegungen.
Die Zeit, in der die genannten Werke entstanden, war eine sehr fruchtbare Phase in Händels Schaffen. Die Ode Alexander’s Feast komponierte Händel 1735/36, Israel in Egypt und Saul in den Jahren 1738/39, Messiah folgte 1741/42. Des Weiteren komponierte Händel in dieser Zeit nicht nur das Oratorium L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato (1740), sondern noch elf (!) Opern, darunter seine wohl bekannteste, Xerxes, und – als seine letzte Oper überhaupt – im Jahr 1741 Deidamia. Man könnte vermuten, dass diese intensive Beschäftigung mit der Oper auch auf die Oratorien abgefärbt hat. Bei Messiah und Israel in Egypt ist dieses jedoch überhaupt nicht der Fall. Hier wird erzählt, geschildert, dargelegt; und mit großem stilistischem Feingefühl werden programmatische Szenen plastisch ausgebreitet (Israel in Egypt). Messiah nimmt den Hörer mit hinein in die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu und lässt ihn mitfühlend Anteil nehmen. Dass hinter all dem das göttliche Wirken steht, wird vor allem in den großen Lobgesängen zum Schluss der Oratorien deutlich. Bezeichnenderweise sind Messiah und Israel in Egypt die Händel’schen Oratorien mit dem größten Choranteil, das letztere kann geradezu als Chor-Oratorium bezeichnet werden. Allein bei den üblicherweise aufgeführten Teilen II und III („Exodus“ und „Moses’ Song“), sind von den 31 Nummern 20 für den Chor. Den Rest bilden vier kurze Rezitative und sieben Arien. Teil I, das Funeral Anthem, besteht gar ausschließlich aus Chornummern.
Jürgen Budday ist der Gründer und künstlerische Leiter des Maulbronner Kammerchors. Von 1979 bis 2013 war er der künstlerische Leiter der Klosterkonzerte Maulbronn. Er befasste sich intensiv mit Händels Oratorien und initiierte und dirigierte von 1996 bis 2009 im Rahmen der Klosterkonzerte einen Händel-Oratorienzyklus, der auch diskographisch dokumentiert wurde.
Georg Friedrich Händel
Alexander’s Feast
Ode. Fassung der Uraufführung und Fassung von 1751
Carus 55.075/00
Deutlich anders ist Saul konzipiert: Hier beträgt der Choranteil weniger als ein Viertel des Gesamtwerks. Rezitative und Arien dominieren in einem Werk, das von zwölf (!) Einzelpersonen bestimmt wird und damit dem Typus der Oper durchaus näher steht. Händel macht dies auch rein äußerlich deutlich, indem er das Werk in Akte und Szenen aufgliedert. Noch stärker zeigt Teil II der Ode Alexander’s Feast (nach einer Ode von John Dryden) dramatischen Zuschnitt. Wie schon angesprochen, geht es Händel aber in allen Werken weniger um die dramatische Charakterisierung einzelner Personen, vielmehr arbeitet er mit sehr differenzierten musikalischen Affekten und subtilen Schilderungen von Gemütszuständen. Er lässt den Zuhörer teilhaben an den Emotionen der handelnden Personen
Dies allerdings verlangt vom Interpreten ein hohes Maß an Sensibilität in Bezug auf Wendungen und rhetorische Figuren, die in der Partitur aufzuspüren sind. Es gibt nur wenige dynamische Angaben, Artikulationshinweise sind äußerst spärlich, Wort-Ton-Beziehungen müssen entdeckt werden. Aber genau diese Dinge sind essenziell für das Verständnis der Musik, für die Aufhellung der Handlung und für die Lebendigkeit der Interpretation.
Darin entscheidet sich, ob der Zuhörer nur einfach beschallt oder von dieser Musik gepackt wird. Der Interpret hat ein hohes Maß an interpretatorischer Gestaltungsfreiheit und damit zugleich eine große Verantwortung für eine dem Werk adäquate Wiedergabe. Für einen Dirigenten eine faszinierende Aufgabe und Herausforderung! Es ist unmöglich, hier in ein eingehendes Partiturstudium einzusteigen. Stellvertretend seien nur einige Stellen genannt: mehrere Nummern des Passions-Teils (2.Teil) des Messiah oder die Schilderung der Plagen in Israel in Egypt, die Klage Israels über Sauls und Jonathans Tod in Saul oder die Totenklage in Teil II von Alexander‘s Feast (Nr. 7 bis 10). Das ist ganz große, bewegende, mitreißende, emotionale Musik.
Zu bedenken ist dabei ein weiterer, nicht ganz unproblematischer Aufführungsaspekt: die Frage der verschiedenen Fassungen und Bearbeitungen. Man kann davon ausgehen, dass die verschiedenen Fassungen keine Werk-Fassungen, sondern Aufführungsfassungen sind, d. h. Händel hat seine Werke jeweils den vor Ort gegebenen Aufführungsmöglichkeiten angepasst (zur Verfügung stehende Instrumentalisten, Vokalsolisten, Chorqualität, Aufführungsraum, Unterhaltungsfaktor für das Publikum usw.) und damit versucht, die Erfolgsvoraussetzungen für die Wiedergabe an diesem Ort zu optimieren
Allein von Alexander’s Feast sind fünf Fassungen überliefert (1736, 1737, 1739, 1742, 1751). Die Carus-Ausgabe enthält sowohl die Erstfassung von 1736 als auch die letzte Fassung von 1751 (Carus 55.075). Die Unterschiede sind nicht unerheblich und es bedarf der sorgfältigen Abwägung, wofür man sich als Interpret entscheidet.
Auch von Messiah sind fünf Fassungen nachweisbar (1742 Dublin; 1743 London; 1745/49 London; 1750 London; 1754 „Foundling Hospital-Fassung“). In der Carus-Ausgabe sind alle Varianten übersichtlich hintereinander aufgeführt (Carus 55.056).
Von Händel selbst nie aufgeführte Alternativen finden sich in einem Appendix, sodass der Dirigent für seine eigene Aufführung eine fundierte Entscheidung treffen kann. Messiah und Alexander‘s Feast sind die schon zu Händels Lebzeiten mit größtem Beifall aufgenommenen Oratorien/Oden. Sie fanden eine weite Verbreitung und sicherten Händel Erfolg und Ruhm. Nicht von ungefähr sind es genau diese Werke, die Mozart später komplett bearbeitet und in ein klassisches Orchestergewand gekleidet hat.
Georg Friedrich Händel
Israel in Egypt – Part I-III
HWV 54, 1739
Carus 55.054/50
Terry Wey (Solo),
Vocalensemble Rastatt · Les Favorites
Leitung: Holger Speck
Carus 83.423/00
Vom Oratorium Saul wurden drei verschiedene Aufführungsfassungen erstellt: 1738, 1739, 1741. Die Carus-Ausgabe folgt dabei der ersten Fassung von 1738 (Carus 55.053). Einen Sonderfall stellt das Oratorium Israel in Egypt dar. Obwohl heutzutage meistens nur die Teile II („Exodus“, Auszug des Volkes Israel aus Ägypten) und III („Moses’ Song“, ein großer Lobpreis Gottes) aufgeführt werden, ist es doch ursprünglich ein dreiteiliges Oratorium. Interessanterweise komponierte Händel zuerst den dritten Teil, danach den zweiten. Erst nach Abschluss dieser Kompositionen entschloss er sich, daraus ein dreiteiliges Oratorium zu machen, indem er die Klage der Israeliten über den Tod Josephs (Sohn des israelischen Erzvaters Jakob) „The Ways of Zion do mourn“ voranstellte. Dabei griff er auf eine bereits vorhandene Komposition (Funeral Anthem for Queen Caroline) zurück, die er nur geringfügig anpassen musste. In dieser Vollständigkeit erklang das dreiteilige Oratorium 1739/40 in London. In der Fassung von 1756–1758 entfiel das einleitende Funeral Anthem, dafür übernahm Händel Teile aus verschiedenen anderen eigenen Oratorien. So wurde Israel in Egypt in zwei Gestalten aufgeführt: zum einen das Oratorium in drei Teilen, zum andern nur der eigentliche Auszug aus Ägypten mit den Teilen II und III. Das Funeral Anthem (Teil I) wird nach wie vor auch eigenständig aufgeführt. Dieser Tatsache entspricht auch die neue Carus-Ausgabe, die nicht nur die Teile I bis III komplett (Carus 55.054/50), sondern auch Teil I (Carus 55.264) sowie die Teile II und III (Carus 55.054) als einzelne Bände anbietet.
Hinsichtlich der Besetzung entfaltet Händel eine große Variabilität. Die Instrumentalbesetzung des Messiah darf als eine Art Grundbesetzung der Händel’schen Oratorien gelten: Zu den Streichern gesellen sich zwei Oboen und zwei Trompeten plus Pauke. Die Bassstimme wird natürlich mit Cello und Fagott besetzt. Dazu ein vier- bis fünfstimmiger Chor und vier Solisten.
Bei Israel in Egypt wird der instrumentale Part um zwei Flöten und drei Posaunen erweitert. Der Chorpart ist über weite Strecken doppelchörig, und trotz der geringen solistischen Aufgaben sind sechs Solisten erforderlich.
Alexander’s Feast weist einen opulenten Orchesterapparat auf: Zu zwei Flöten und zwei Oboen treten drei Fagotte, zwei Hörner, zwei Trompeten plus Pauken hinzu, und auch die Streicher sind mit drei Violinstimmen, zwei Bratschenstimmen, einem Solo-Cello, Tutti-Celli und Kontrabass üppig besetzt. Der Chor weitet sich stellenweise bis zur Siebenstimmigkeit, vier Solisten ergänzen den ganzen musikalischen Komplex.
Noch abwechslungsreicher gestaltet sich Saul. Allein zwölf Solo-Partien (die auch mit sechs Solisten abgedeckt werden können) sind gefordert. Das Orchester entspricht dem von Israel in Egypt, verlangt aber zusätzlich noch als besondere Klangfinesse ein Carillon und eine Harfe.
Eine grundsätzliche Bemerkung zur Besetzung des Continuo: Je nach musikalischer Gegebenheit, Charakter und Affekt eines Stückes kann die Besetzung variiert werden. Dies betrifft die Bass-Linie mit Violoncello oder Fagott, gegebenenfalls sogar Gambe und Kontrabass bzw. Violone genauso wie den harmonischen Bereich mit Cembalo, Orgel und Theorbe oder Laute. Je größer die klangliche Vielfalt und der Charakter der Instrumente, umso lebendiger kann der Continuo-Part gestaltet werden. Diese Instrumentenkombination ist die Basis einer jeden Aufführung und kann schon alleine für sich unglaubliche Wirkung erzielen.
Von erheblichem Einfluss auf das Klangbild war die Aufstellung des gesamten Ensembles. Sie unterschied sich nicht unerheblich von der kontinentalen des 19. und 20. Jahrhunderts. Dazu sei Hans Joachim Marx zitiert: „In der Mitte der Bühne (stand) die Orgel, links und rechts von ihr waren ‚amphitheaterartig’, d. h. halbkreisförmig Podien aufgebaut, auf denen stufenförmig angeordnet die Instrumentalisten saßen. Vor der Orgel stand wahrscheinlich das Cembalo, neben dem sich rechts und links die Generalbass-Instrumente (Violoncello, Kontrabass, Theorbe u. a.) gruppierten. Hinter dieser Gruppe waren auf den Podesten die Streich- und Blasinstrumente arrangiert, auf den obersten Stufen waren die Hörner, Trompeten, Fagotte und Kesselpauken postiert. Vor dem Orchester befand sich der Chor, am vorderen Ende der durch eine Balustrade abgeschlossenen Bühne saßen die Vokalsolisten […]. Der gravierende Unterschied zwischen den englischen Oratorien-Aufführungen des 18. Jahrhunderts und den kontinentalen des 19. und 20. Jahrhunderts besteht demnach in der Aufstellung der Vokalsolisten und des Chores vor und nicht hinter dem Orchester. Daraus ergibt sich schon in akustischer Hinsicht eine Bevorzugung des Vokalen vor dem Instrumentalen, die auch den ästhetischen Vorstellungen der Zeit entsprach…“. Eine bedenkenswerte Aufstellung für alle Interpreten und Veranstalter, deren räumliche Gegebenheiten eine solche Alternative erlauben würden!
Georg Friedrich Händel
Saul
HWV 53
Carus 83.243/00
Dresdner Kammerchor · Dresdner Barockorchester
Leitung: Hans-Christoph-Rademann
Carus 83.423/00
Zuletzt seien noch einige Gedanken zur Aufführungspraxis angebracht. Natürlich muss zunächst jeder Dirigent entscheiden, ob er eine Aufführung mit modernem Instrumentarium, evtl. sogar in der klassisch-romantischen Tradition, oder in historisch informierter Musizierpraxis gestalten will. Überzeugend interpretiert, können beide Varianten der Musik Händels gerecht werden. Dennoch verhehlt der Autor nicht, dass er bekennender Anhänger der historisch informierten Aufführungspraxis ist. Speziell bei Händel lässt sich die Musik durchsichtiger, leichter, farbiger, rhetorisch griffiger, plastischer, klanglich gewagter, virtuoser und insgesamt sprechender und erhellender darstellen, wenn man sich konsequent der historisch informierten Aufführungspraxis zuwendet. Dazu gehört aber nicht nur ein auf diesem Gebiet spezialisiertes Instrumentalensemble, sondern auch ein in der barocken Musizierpraxis geschulter und versierter Chor ebenso wie Solisten, die klangästhetisch und gesangstechnisch (Koloraturen, Diminutionen!) mit barocker Musik bestens vertraut sind.
Dies ist jedoch ein weites Feld, das eines besonderen Studiums bedarf. Einige Hinweise dazu finden sich in der Messiah-Partitur der Carus-Ausgabe. Weiterführend sei auf die einschlägige Literatur zur barocken Aufführungspraxis verwiesen.
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