Choral Music Composed by Women_de

Shout, up with your song

Frauen, die Musikgeschichte schreiben

Im Jahr 2017 hat die renommierte Zeitschrift Gramophone eine Rangliste der
50 besten Dirigenten aller Zeiten veröffentlicht.
0% davon sind Frauen.

Dieselbe Rangliste 2023:
unter den Top-50 sind 8 Dirigentinnen.

Bei den Komponist*innen sieht es ähnlich aus: Die Top 20 der meist aufgeführten zeitgenössischen Werke 2019 stammen allesamt von Männern. Im Jahr 2022 sind immerhin 9 Frauen dabei.

Ganz anders sieht es in der Welt der Popmusik aus. Hier steht Frau in der ersten Reihe und macht vor, wie es geht. Beyoncé: „Who run the world? Girls!“

Die größten Popstars der Welt sind heute Frauen: Neben Beyoncé vor allem Taylor Swift, Adele, Rihanna, Miley Cyrus und hierzulande Shirin David und Helene Fischer. Mit ihren Songs bewegen sie nicht nur musikalisch die Massen. Sie nehmen auch Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Bei der US-Wahl 2020 unterstützte Taylor Swift Joe Biden. Und sie ist – trotz (oder wegen) des Shitstorms aus dem Trump-Lager – seitdem noch beliebter und einflussreicher geworden. Vier Jahre später, im September 2024, bezieht sie Position für Kamala Harris. Beyoncé gilt als Ikone des Feminismus und nutzt ihren Einfluss für das Sichtbarmachen Schwarzer Kultur und das Empowerment Schwarzer Frauen. Und sie kann etwas bewegen.

Warum ist das in der Welt der Klassik und der sogenannten Hochkultur so anders? Warum geht es hier so viel langsamer? Auch Komponistinnen mit außerordentlicher musikalischer Begabung, mit Durchsetzungsvermögen und visionärer Kraft sind weit weniger bekannt und werden weit weniger aufgeführt. Die Situation hat nur in einem Punkt etwas Positives: Es gibt noch so viel zu entdecken: Kompositorische Schätze, die gehoben werden wollen. Persönlichkeiten, die es lohnt, kennenzulernen. Werke, die fest in die Konzertrepertoires gehören sollten. Die Lebensgeschichten der Komponistinnen des Chorbuchs Choral Music Composed by Women klingen oft ebenso ungewöhnlich wie die Musik selbst.

Mit den Suffragetten hatte sie Fensterscheiben eingeworfen und mit Johannes Brahms gestritten, weil der von komponierenden Frauen nicht viel hielt: Ethel Smyth (1858–1944). Die Britin startete ihre musikalische Karriere mit einem Hungerstreik. Nur so konnte sie bei ihrer Familie durchsetzen, dass sie ab 1877 in Leipzig Komposition studieren durfte. Sie schuf Chorwerke, Sinfonien, Kammermusik und Opern. Ihr bekanntestes Werk March of the women („Shout, shout, up with your song!“) wurde zur Hymne der englischen Frauenrechtsbewegung. Der leicht umzusetzende Chorsatz findet sich in Choral Music Composed by Women. Die wohl berühmteste Aufführung fand 1912 in einem Londoner Gefängnis durch inhaftierte Frauenrechtlerinnen statt. Der englische Dirigent Thomas Beecham berichtet, wie die Frauen im Gefängnishof sangen und Ethel Smyth vom Fenster aus mit der Zahnbürste den Takt angab.

Smyth fand durchaus Anerkennung und wurde später zur „dame“ geadelt. Doch nach ihrem Tod 1944 gerieten sie und ihre Werke schnell in Vergessenheit. Lange stand sie im Schatten ihrer männlichen Kollegen. Erst in jüngster Zeit hat eine Wiederentdeckung ihrer Kompositionen eingesetzt. Vorbildhaft auch für heutige musikalische Karrieren ist ihre Entschlossenheit, das zu schaffen, was sie sich vorgenommen hat, und nicht auf die Bedenkenträger und Warner zu hören.

Choral Music Composed by Women
47 Kompositionen für Coro SATB
Carus 2.251/00

 

Ethel Smyth
(1858–1944)

March of the women

Florence Price
Praise the Lord
Carus 3.402/30

Der Durchbruch als Komponistin gelang ihr mit ihrer 1. Sinfonie. Das preisgekrönte Werk war 1933 zur Weltausstellung in Chicago uraufgeführt worden. Die Kritiker waren baff, denn das hatten sie von einer Frau – noch dazu von einer afroamerikanischen Frau – nicht erwartet. Einen Platz im Kanon der amerikanischen Musikgeschichte bekam Florence B. Price (1887–1953) zu Lebzeiten trotzdem nicht. Diskriminierung und Vorurteile in der Klassik waren viel zu stark. Illusionen machte sie sich keine: „Ich habe zwei Handicaps: ich bin eine Frau, und in meinen Adern fließt schwarzes Blut“, schrieb sie 1943 an den Chefdirigenten des Boston Symphony Orchestra, um ihn zur Aufführung ihrer Werke zu bewegen. Erfolglos.

Es ist der Antagonismus zwischen schwarzer Herkunft und weißer Musiktradition, der Florence Price bis an ihr Lebensende 1953 antrieb. Ihre Vision, die Musik der Sklavinnen und Sklaven mit der abendländischen Musik zu vereinen, inspirierte sie zu einem eigenen charakteristischen Stil. Stücke wie Fantasie nègre oder At the Cotton Gin zeugen davon. Die traditionelle Orchesterbesetzung kombinierte sie mit afrikanischen Rhythmusinstrumenten. Neben Melodien der afroamerikanischen Folklore verwendete sie in ihren Werken die synkopierten Rhythmen des Juba-Tanzes. „Juba“ war ein Tanz der Sklavinnen und Sklaven, die durch Stampfen, Klatschen und Bodypercussion das Verbot der Trommeln umgingen. Praise the Lord (im Chorbuch) erinnert mit seinen markanten Rufen an die Spiritual-Tradition.

Zu Lebzeiten konnte Florence Price nur davon träumen: Renommierte Ensembles in aller Welt singen und spielen heutzutage ihre Musik und sie wird gefeiert.

Smyth und Price lebten im 19. und 20. Jahrhundert – in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche. Wie erging es komponierenden Frauen aber in früheren Jahrhunderten, in anderen gesellschaftlichen und sozialen Umständen?

Die Spurensuche führt ins 17. Jahrhundert, und zwar nach Norditalien um 1600. Erste Notendrucke aus dem damaligen Notenstich-Zentrum Venedig überliefern die Namen und Werke einer ganzen Reihe von Frauen, die in ihrer Zeit hochangesehene Musikerinnen und Komponistinnen waren: Maddalena Casulana (um 1544–ca. 1590), Vittoria Aleotti (1575–nach 1620), Francesca Caccini (1587–ca. 1640), Caterina Assandra (um 1590–1618), Chiara Margarite Cozzolani (1602–1678), Isabella Leonarda (1620–1704), Barbara Strozzi (1619–1677) u.a.

Einige von Ihnen schufen ihre Werke in einem Umfeld, das für sie eine Insel zur Entfaltung Ihrer Kompositionstätigkeit darstellte: im Kloster. Vittoria Aleotti (1575–nach 1620) wuchs im Umfeld des Hofes d´Este in Ferrara als Tochter eines Hofarchitekten und Bühnenbildners auf und brillierte schon als Kind auf dem Cembalo, wie auch ihr nur wenig jüngerer Kollege Frescobaldi. Mit 14 Jahren ging Vittoria Aleotti ins Kloster San Vito, das einen weit über die Stadt hinausreichenden Ruf als Ausbildungs- und Musikstätte hatte. Vittoria Aleotti wurde unter ihrem Klosternamen „Raffaela“ Leiterin der Klostermusik, später gar Priorin des Klosters. Ihr standen 23 Musikerinnen zur Verfügung, Instrumentalistinnen und Sängerinnen. 1593 ließ sie einen Band mit geistlichen Motetten für 5 bis 10 Stimmen drucken, zugleich ließ ihr Vater für sie in Venedig einen Band mit weltlichen Madrigalen erscheinen, aus dem das im Chorbuch Choral Music Composed by Women erschienene bezaubernde Madrigal „Hor che la vaga Aurora“ über die Morgendämmerung und Apolls Musik stammt. Das Kloster gab Aleotti den Raum, ihr Talent zu entwickeln und sich über die Klostermauern hinaus einen Ruf als Komponistin zu erwerben.

Einen ähnlichen Lebensweg wählte Isabella Leonarda, die sich – als Adelstochter geboren – mit 16 Jahren ins Ursulinenkloster in Novara begab und dort zur Musikerin ausgebildet wurde. Sie veröffentlichte 20 Sammlungen mit eigenen Werken, darunter auch Instrumentalwerke, die als die frühesten Instrumentaldrucke einer Frau gelten. Sie widmete ihre Werke nicht nur hochgestellten Persönlichkeiten wie Kaiser Leopold I., sondern auch der Mutter Gottes, was der Canon coronato a 3 im Chorbuch zeigt, in dem die Widmung gesungen wird.

Maddalena Casulana und Barbara Strozzi gelang es hingegen, außerhalb der Klostermauern erfolgreiche Karrieren als Komponistinnen zu führen. Casulana, eine gefeierte Sängerin und Lautenistin, gilt gar als die erste Frau, die ihre eigenen Werke veröffentlichte. Barbara Strozzi schaffte das Kunststück, als uneheliche Tochter und später unverheiratete Mutter von 4 Kindern in Venedig ihr Geld mit Singen, Musizieren und Komponieren zu verdienen und acht Musiksammlungen zu veröffentlichen. Beide waren über die Grenzen Italiens hinaus bekannt.

Ob als erfolgreiche Musikerinnen, Mäzeninnen, Auftraggeberinnen, Vermittlerinnen, Pädagoginnen, Chorleiterinnen – Frauen haben zu allen Zeiten das Musikleben geprägt. Als Komponistinnen hatten sie meist nur eine leise Stimme im Musikbetrieb ihrer Zeit, ihre Werke wurden zu selten gedruckt.

Wie werden wohl die Ranglisten in 10 Jahren aussehen? Man darf gespannt sein. Und vielleicht ist der Mozart der Zukunft eine Frau!

Dr. Barbara Mohn ist seit 1994 Lektorin im Carus-Verlag; von 2000 bis 2008 leitete sie dort die Editionsstelle der Rheinberger-Gesamtausgabe.

Dr. Reiner Leister ist Musikwissenschaftler und war Chorleiter in Aachen, Bornheim und Siegburg. Als Key Account Manager beim Carus-Verlag betreut er seit 2019 weltweit die Chor-Kunden.

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